Heimatlos

(Mia sitzt zusammengekrümmt, die Hände vor den Augen, ganz still. Tobias kommt hinzu, setzt sich neben sie, streichelt sanft ihre Schulter.)
TOBIAS: Es wird alles wieder gut. Das wird schon wieder, Mia, glaub mir, es wird-
MIA (schlägt die Hände runter): Halt die Klappe, Tobi! Sei einfach leise. Nichts wird wieder gut, egal, wie oft du das sagst und das weißt du ganz genau.
TOBIAS: Alle werden sich daran gewöhnen und in einem Monat spricht schon keiner mehr darüber, du wirst schon sehen!
MIA: Sie werden mich immer komisch angucken, weil ich für sie anders bin. Die Mädchen in der Schule wollen sich schon nicht mehr in derselben Umkleide mit mir umziehen. (nachäffend) Warum geht sie nicht zu den Jungs? Da können sie zusammen den Playboy durchblättern und über Brüste reden! (gackert)
TOBIAS: Du hast dir sonst doch auch nichts aus den Meinungen von denen gemacht. Und wir anderen stehen absolut hinter dir.
MIA: Du, Tobi, nur du.
TOBIAS: Und Jonas?!
MIA: Der hasst mich, vielleicht noch mehr als alle anderen. Ich hab ihn blamiert. Die Jungs lachen über ihn. (nachäffend) Hat mich schon gewundert, dass sich ein Mädchen ernsthaft für dich interessiert hat. Aber nein, es war eh nur die Lesbe, die eine Tarnung gesucht hat.
TOBIAS: Er ist immer noch dein bester Freund, auch wenn ihr jetzt getrennt seid. Er sieht das schon noch ein.
MIA (ernster): Alle gucken mich komisch an. Selbst die alte Irma hat an der Supermarktkasse mit ihrer Pflegerin hinter mir getuschelt. Ich will einfach nur noch aus diesem beschissenen kleinen Dorf und weg von diesen engstirnigen Dummköpfen.
TOBIAS (leiser, betroffen): Aber deine Familie ist doch hier!
MIA: Familie?! (lacht spöttisch) Das nennst du Familie? Wie soll ich mich hier noch Zuhause fühlen, wenn unsere Eltern mich am liebsten rausschmeißen würden? Aber nein. Der Schein nach außen muss natürlich gewahrt werden.
TOBIAS: Die kriegen sich schon wieder ein. Sie sind einfach ein bisschen überfordert. (dreht den Kopf beschämt zur Seite) Ich war es auch. (Mia überhört ihn.)
MIA (flüsternd): Hast du nicht gemerkt, wie sie versuchen, mich nicht anzustarren? Oder zu berühren? In Mamas Vorstellung einer perfekten Familie passt doch nur die hübsche Jurastudentin oder eine Tochter, die einen reichen Schwiegersohn mit nach Hause bringt. Und Papa? Der kann nicht verstehen, warum sein kleines Mädchen nicht normal ist. (seufzt tief und zündet sich eine Zigarette an) Dieses Dorf war mal meine Heimat, aber was soll mich jetzt noch hier halten?
TOBIAS Seit wann rauchst du?!
(Mia schweigt)
TOBIAS: Du bist meine kleine Schwester! Ich lass nicht zu, dass du dich so hängen lässt. Sieh dich doch mal an!
MIA: Was willst du machen? Du kannst deren Meinung nicht ändern. (Pause) Aber die mich auch nicht.
TOBIAS: Lass dich nicht verändern! Bitte, Mia, das darfst du niemals zulassen!
MIA: Guck dir diese Welt an. Was ist das für ein beschissener Ort, wenn man sich verstellen muss, um akzeptiert zu werden?!
TOBIAS: Es gibt genug Menschen, die das verstehen.
MIA: Alle haben immer gesagt, dass man sich viel freier fühlt, wenn man es endlich allen gesagt hat. Das stimmt nicht. Ich war ein ganz normales Mädchen, aber jetzt bin ich in diesen klischeehaften Vorstellungen gefangen. Hätte ich doch nie etwas gesagt, vielleicht würde dann ja noch irgendwer von meinen Freunden mit mir reden.
TOBIAS (energischer): Das reicht jetzt, Mia! Es reicht. Dann sind das halt keine wahren Freunde. Na und? Besser, du weißt jetzt schon, dass die es nicht wert sind. Aber ich, Mia, ich! Für mich bist du immer noch dieselbe und ich liebe dich, genauso wie du bist. Ich bin noch hier.
MIA (flüsternd, mit erstickter Stimme): Und wenn das nicht reicht?
Stille
TOBIAS: Ach, das ist doch alles scheiße. (seufzt, greift nach der Zigarette und zieht einmal kräftig daran)
MIA: Sei nicht sauer, ja?
TOBIAS: Wegen der Zigarette?
MIA: Wegen allem.
TOBIAS: Ich will nur, dass du glücklich bist, ok?
MIA: Ok. (Pause) Du weißt, dass ich dich auch liebe oder?
TOBIAS: Ja, ich… ich denke schon.
MIA: Ich kann hier nicht bleiben. Verstehst du das?
TOBIAS Nein. (Pause) Aber ich kann es akzeptieren, glaube ich.
MIA: Das… das ist gut.
TOBIAS: Ich kann nur nicht verstehen, wann du aufgegeben hast, eine Kämpferin zu sein!
MIA: Was ist das denn für ein Leben, wenn es immer nur ums Kämpfen geht, Tag für Tag?!
TOBIAS: Manchmal habe ich das Gefühl, du entgleitest mir einfach so.
MIA (lächelt flüchtig): Ich werde immer irgendwie da sein, Tobi, das verspreche ich dir. Wir sehen uns eines Tages, ok?
TOBIAS: Ok… ok.
Pause
MIA: Danke, Tobi.
TOBIAS: Für was?
MIA: Für alles. (Pause) Ich werde jetzt gehen.
TOBIAS: Hast du Angst?
MIA: Nein. Allem, wovor ich Angst hatte, bin ich schon begegnet.
TOBIAS (leiser): Ich wünsche dir, dass du an einen besseren Ort als diesen kommst, Mia. (drückt Mia Kuss auf den Kopf, steht auf und geht)
MIA: Das wünsche ich mir auch.

Kommentare

  1. Von Clara am

    Ich finde das Thema sehr spannend, doch da das ein Minidrama ist, hätte man es vielleicht an der ein oder anderen Stelle kürzen können

  2. Von Alina am

    Es ist immer noch kurz genug um Minidrama genannt zu werden;)
    Ich finde dein Stück echt Beeindruckend!

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