Als ADHS und Depression in eine Bar gingen, um die Normalität zu treffen

(Eine Bar in der Seelenwelt. Nennenswert ist höchstens die schattige Dunkelheit der einen Seite, die dem bunten Licht der anderen Seite weicht. Depression schleppt sich durch die Schatten, ADHS tanzt mit ulkigen Schritten durch das knallige Licht zur Bartheke, bevor sich beide neurotische Erkrankungen auf den Barhocker ihrer respektiven Seite niederlassen. Normalität ist der Barkeeper und steht dort, wo sich das Farbenfrohe und das Schwarze zu einer grauen Linie vermischt.)

Normalität: Was darf’s sein?

Depression: Ein trauriger Wein. Ein Tässchen Sinn. Eine Dosis Schlaf. Oder halt, ich nehm‘ einen schwarzen Kaffee ohne Zucker, ohne Milch, das Übliche.

Normalität: Das ist kein Café und keine Heilanstalt, sondern eine Bar. Was wünschen Sie von der Karte?

Depression: Auf der Karte steht nichts, was mir bei meinem Durst hilft. Ich glaub‘ ich bin hier falsch.

(Depression will aufstehen, doch ADHS hält sie auf.)

ADHS: Falsch sagst du? Nein, nein. Du doch nicht. Und nun lass uns bestellen. Man mag hier ja wohl noch ein Heilmittel kriegen?

Normalität: Ein Heilmittel sagst du? Hier haste Methylphenidat und ein Antidepressivum. (Schiebt die Medikamente hin) Und nun bestellt richtig, sonst-

ADHS: (Grinst und drückt die Medikamente mit einem Ellbogen weg) Als ich Heilmittel sagte, dachte ich an einen Tee, einen Süßlichen mit reichlich Zucker und einem Schuss Milch, bestreut mit Zimt und dazu einen Honigkeks. Das darf doch möglich sein?

Normalität: (Verärgert) Wir sind eine Bar, kein Café oder Teehaus, und wenn ihr nicht das Angebot der Karte akzeptiert, dann verschwindet.

Depression: (Eingeschüchtert) Vielleicht sollten wir wirklich gehen, ADHS. Hier gibt’s doch nichts für uns und-

ADHS: (Erhebt sich und klatscht die Hände auf die Bartheke) Nein! Ich kam zu diesem Ort, weil ich hörte, dass andere hier ihre Wünschen erfüllt bekommen und überall sehe ich glückliche, zufriedene Leute mit ihren Getränken. Warum also für uns nicht? Warum bleibt uns dieses Glück verwehrt?

Depression: ADHS, bitte zügle dein Temperament…

ADHS: Als ob ich denen Respekt zolle, die ihn nicht verdienen.

Normalität: (Zieht eine empörte Miene) Entschuldigung?

ADHS: Jaja, richtig gehört. Diese Bar wirbt mit der Zufriedenheit aller, die sie betreten, Getränke zum gleichen Preis für jeden, eine allumfassende Palette an Mitteln und Möglichkeiten, sich zu sozialisieren, deswegen kamen wir hierher, nahmen den beschwerlichen Weg auf uns. Ich musste Depression aus ihren fünf Lagen Decken wickeln und hierherziehen, aber jetzt wünscht‘ ich, ich wäre mit ihr in die Traumwelt gegangen statt hierher.

Normalität: Was redest du da?

Depression: (Leise, schüchtern) Es ist wahr. Ich fürchtete mich hierherzukommen und wieder das Lächeln aufzuzwingen, das der Alltag von mir abverlangt. Ich dacht‘ ich könnte sein, wer ich bin, doch das Werbeschild trägt Lügen. Aber ich bin’s gewohnt. War nett hier.

(Depression steht auf und verbeugt sich höflich, ihr publikumswürdiges Lächeln aufgesetzt und eine hauchdünne Entschuldigung murmelnd, bevor sie sich umdreht. Das Lächeln löst sich von ihren sanften Zügen und unter ihren Auge bildet sich ein wässriger Film. ADHS umarmt sie von hinten, selbst bemüht, das Lächeln zu wahren.)

ADHS: Ich weiß, dass wir an so einen Ort nicht hingehören, doch ist das nicht unsere Schuld. (Ein finsterer Blick zur Normalität) Würden gewisse Leute sich die Mühe machen, uns zu verstehen und ihre scheinheiligen Versprechen Wirklichkeit werden lassen, dann könnten wir auch einmal etwas in einer Bar trinken, ungehemmt sprechen und einfach frei brüllen: „Wir sind anders, na und? Akzeptiert, dass ich nicht zwei Stunden still sitzen kann, seht darüber hinweg, dass ich euch mal ins Wort falle, und bitte hört auf, zu glauben, dass man mich mit Medikamenten euren Standard anpassen kann.“ (Leiser) Ich gehe doch auch nicht hin und sag: „Trinkt alle Tee mit viel Zucker, damit ihr hyperaktiv werdet.“

Depression: (Sanft) Ich würde der Welt gerne einmal sagen: „Ich bin krank, kein gebrochenes Bein, aber eine gebrochene Seele. Ich streng mich an, aber ich kann nicht weiterlaufen. Bitte erlaubt mir eine Atempause, respektiert, dass ich gerade zu müde bin, es liegt nicht an euch, nur manchmal kann ich einfach nicht…“

Normalität: (Verrollt die Augen) Was für ein Theater.

Depression und ADHS: (Bestimmend) Das ist kein Theater!

Normalität: Nun hört doch endlich auf, euch so komisch zu verhalten und bestellt. Die Reihe hinter euch ist lang geworden.

Depression: (Murmelnd) Die Reihe ist lang geworden. Ich habe schon wieder jemanden warten lassen. Es ist ein Graus, wenn ich da bin.

ADHS: Nein, nein! Du darfst dich nicht unterkriegen lassen. Dann warten die Leute halt mal auf dich. Du bist ja auch immer geduldig. Ganz anders als ich. Also, wenn ich jetzt in dieser Warteschlange gestanden hätte, heilige Scheiße, ich wäre an die Decke gesprungen und…
Depression: Mit den Gedanken abgeschweift, dir alle möglichen Szenarien ausgedacht, dir Gedanken um die anderen gemacht und geflüchtet.

ADHS: (Zuckt mit der Schulter) Und womöglich dem Vogel hinterhergejagt, der da am Fenster vorbeigeflogen ist.

(Die beiden lachen auf ihre eigene seltsame und doch vertraute Art, die kein Normalsterblicher verstehen würde.)

Normalität: Ernsthaft, ihr kamt hierher, um zu bestellen und jetzt seid ihr nur komisches Zeug am Reden.

ADHS: Ach, und du bist besser? Ich fragte dich nach Tee, Depression wollte Kaffee, und alles, was du uns anbietest, sind Medikamente und der Verweis auf eine allumfassende Karte, die ihn Wirklichkeit nur ein alkoholisches Getränke auflistet.

Normalität: (Allmählich mit den Nerven am Ende) Das ist eben das, was normalerweise bestellt wird!

ADHS: (Spöttisch lächelnd) Vielleicht solltet ihr euren Slogan ändern und ganz groß an eure Front schreiben: „Wir akzeptieren nur eine Sorte Mensch, nämlich der, der das akzeptiert, was der Ladeninhaber auf die Karte gesetzt hat.“

(ADHS dreht sich in einer schnippischen Bewegung um und zieht an dem Arm von Depression.)
ADHS: Weißt du was, Depression? Wir lassen die Bar „Gesellschaft“ hinter uns und gehen in den coolen Club von Nebenan.

Depression: Hm? Was ist denn der Name dieses Clubs?

ADHS: „Akzeptanz“. Er muss erst noch geschaffen werden, aber eines Tages, Depression, eines Tages wird es ihn geben und er wird dieser Bar ein besseres Geschäftsmodell präsentieren, nämlich dass der kreativen, andersartigen und verrückten Menschen, die von dieser Bar enttäuscht wurden.

Depression: (Kichert) Ach, du und deine Ideen, ADHS.

(Die beiden lächeln sich geheimnisvoll an, bevor sie Hand in Hand aus der Bar „Gesellschaft“ gehen, und womöglich mit einem Minidrama ihres dortigen Erlebnis ein Stück weit mehr auf sich aufmerksam gemacht haben.)

Kommentare

  1. Von Jonas Hirner am

    Schöne Szene, schön umgesetzt. Würde mich sehr freuen, wenn deine Idee aufgeführt wird. Meiner Meinung nach eines der Besten Minidramen auf dieser Seite. Vielleicht hier und da ein bisschen weniger Text, damit die Figuren freier sind, aber das ist auch immer ein wenig Geschmackssache. Viel Glück damit!

  2. Von soufFLEUR am

    finde ich auch, Jonas, und der Titel an sich, auch sehr schön

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