Die Abiturientenklage (Der Tragödie 1. Teil) oder Same-Day-Delivery

FAUST – nein, ABITURIENTIN (erkennbar an Augenringen und Absolventenhut, steht auf einem Bücherstapel und deklamiert):
Nun habe ich das achte Jahr
Das Gymnasium besucht – wie wunderbar.
Namen und Daten sind mir Schall und Rauch
Vom Leben versteh‘ ich keinen Hauch.
Ich kenne (und leider recht genau)
Vom Thales den Satz und von der Kuh den Magenaufbau.
Auch Ovid hab‘ ich mühsam übersetzt,
Nur damit ich’s nach dem Abi alles vergess‘.
Das ist doch deprimierend, man fragt sich wozu,
Ist alles umsonst, meine ganze Tortur?
Jahrelang ließ ich mir die Dinge erklären,
Doch mein Wissen über die Welt scheint sich kaum zu mehren.

MEPHISTO – nein, SHADY TYP (im Kapuzenpulli, der eine ominöse weiße Plastiktüte hinterm Rücken versteckt, flüstert böse):
Seht sie euch an, wie sie rennen und rennen!
Und stimmt die Nachkommastelle nicht, sind sie wieder am Flennen.
(Die ABITURIENTIN steigt von ihrem Bücherstapel herunter und schaut betreten.)
SHADY TYP (legt ihr einen Arm um die Schultern, sodass sie aufschaut und die Ferne zu blicken scheint), laut:
Lang plagten sie dich, doch nun bist du frei.
Die Zeiten der Quälerei sind vorbei.
(Er zieht die Tüte hinter dem Rücken hervor.)
Dir fehlt noch der Durchblick, fragst: falsch oder wahr?
Ich hab‘ da so Pilze, mit denen siehst du ganz klar.
Du musst nicht länger suchen die geheime Wahrheit der Welt,
Sie wär‘ direkt da – wie bei Amazon bestellt.

(Die ABITURIENTIN stößt mit dem Fuß den Bücherstapel um. Der SHADY TYP schnipst ihr die Kappe vom Kopf. Die ABITURIENTIN streckt die Hand nach der Tüte aus – da geht plötzlich das Licht aus und alles wird dunkel.)

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