20 Menschenjahre

Erzähler:

Einen freien Text zu verfassen würde bedeuten, auf jegliche Einschränkungen verzichten zu müssen. Wenn Freiheit also bedeutet ungebunden zu sein, dann gebe ich mich ihr nur ungern hin. Einschränkungen sorgen für kreativen Fluss, ähnlich wie ein Rampenlicht die Sicht darauf beschränkt, was es beleuchtet.
Wenn ich nun also kein Mensch bin, welcher mithilfe von Worten eine Geschichte vermittelt, so bin ich nun ein Wurm in einem Holzapfel, der seine Geschichte erzählt, während sein Heim vor sich hin modert. Ich setze also meine Lesebrille auf und fange an, aus einem vergleichsmäßig großen Buch vorzulesen, während ich mich in meinem burgunderfarbenen Ohrensessel zurechtrücke. Ähem.

Wurm:

Als ich noch ein kleines Würmchen war, durfte ich nie aus meinem Elternapfel heraus. Mein Vater sagte mir, dort draußen sei es zu gefährlich. Er war so vorsichtig, da meine Mutter vor langer Zeit von einem Igel gefressen wurde und er sich dafür die Schuld gab. Das habe ich natürlich erst viel später erfahren, doch ich erzähle es euch jetzt gleich. Ihr Menschen kennt das bestimmt: wenn man etwas nicht haben kann, tja, dann will man es erst recht. Bei uns Würmern ist das nicht anders. Eines Nachts schlich ich mich also aus dem Apfel, als mein Vater schlief. Es war ein großer Apfel mit vielen Eingängen, damit hatte ich also leichtes Spiel. Als ich zum ersten Mal die frische Luft des Ackers, welcher an unser Apfelhaus grenzte, welches sich seinerseits, wie ich nun wusste, unter einem Apfelbaum befand, in meinen Lungen spürte, war ich sechs Monate alt, das sind umgerechnet 20 Menschenjahre. Der Himmel war finster und doch so klar, erleuchtet von Sternen, deren Größe ich mir nicht vorstellen konnte, ohne dass mir schwindlig wurde. Ich habe viel über Sterne und Planeten gelesen. Die unendlichen Weiten des Weltalls faszinierten mich schon seit meiner Jugend und jetzt fühlte ich mich ihnen so nah wie noch nie. Es war, als hätte ich sie berühren können. Es war, als wäre ich frei.
Dann hörte ich ein Kreischen, ein gigantischer Spatz flog im Sturzflug auf mich zu und ehe ich mich versah, war ich schon in seinem Magen gelandet.

Erzähler:

Aber dann wär er ja tot, dann kann er die Geschichte gar nicht mehr erzählen! Das macht keinen Sinn…
Okay, ich hab’s, äh wo war ich? Ah ja, genau….

Wurm:

Es war, als hätte ich sie berühren können. Es war, als wäre ich frei. Doch auch dieser Moment zog vorbei. Wie die Zeit einem das Leid nimmt, so verweht sie auch die schönsten Momente. Kurz darauf zog ich aus, später, als mein Vater starb, kehrte ich zwar zurück, aber das ist eine andere Geschichte. Ich lernte Leute kennen, über die Jahre machte ich Bekanntschaften mit Vögeln, Eichhörnchen, anderen Regenwürmern, Holzwürmern, Ohrwürmern und ja, sogar mit Igeln. Doch war ich nie mehr so frei wie in der Nacht, als ich mich hinausschlich.

Erzähler:

Sehr gut, das nenn‘ ich ein Ende!

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