Bei Sonnenuntergang

Junge: (dreht sich zu dem kleinen Jungen um) Du musst schon hochgehen, wenn du’s sehen willst.
Kleiner Junge: (zögert) Ich will’s aber vielleicht nicht sehen. Was, wenn es gefährlich ist?
Junge: Das denken alle. Deshalb kennen sie das Geheimnis nicht. (dreht sich wieder um, schaut die Mauer hoch) Ich klettere auch zuerst.
Kleiner Junge: (blinzelt gegen die Sonne) Was ist es? Was ist denn das Geheimnis?
Junge: Wenn du mitkommst, siehst du’s selber. Es gefällt dir sicher. (findet Halt, klettert) Wo bleibst du denn?
Kleiner Junge: Warte mal! (bleibt unsicher auf der Stelle) Jetzt sag doch, was ist denn da?
Junge: (hält inne, streicht sich mit einer Hand das Haar aus der Stirn, hält sich mit der anderen fest, dreht seinen Kopf zum kleinen Jungen, der immernoch auf dem trockenen Erdboden steht) Du siehst es ja gleich. Ich werd’s dir nicht verraten. Entweder du schaust selber nach oder du wirst das Geheimnis nie kennen.
Kleiner Junge: (mit gerunzelter Stirn, unsicher) Wenn ich nicht hochklettere, werd’ ich es dann bereuen?
Junge: Na sicher wirst du das. Wenn du da jetzt nicht hochgehst, ärgerst du dich für immer.
Kleiner Junge: (schirmt sich mit der Hand die Augen ab, die Abendsonne blendet) Ist es denn sehr toll dort, ja?
Junge: Bestimmt ist es das. Sonst würde ich nicht so oft herkommen. Los jetzt, es ist die perfekte Zeit gerade. Wenn es dunkel ist, dann ist es nicht mehr so schön. (dreht sich wieder um)
Kleiner Junge: Gut, ich komme. (geht zur Mauer hin und hält sich fest)
Junge: (klettert schon weiter, etwas höher) Hast du’s? Du musst schauen, wo der Stein rausgebröckelt ist. Da kann man seine Füße abstellen. Bekommst du’s hin?
Kleiner Junge: (tapfer) Ja, sicher bekomme ich’s hin. Ich bin doch schon groß.
Junge: Dann beeil dich, die Sonne geht schon unter.
Kleiner Junge: Ich mach ja schon. (klettert weiter)
Junge: (zieht den kleinen Jungen das letzte Stück auf die Mauerkante hoch) Schau mal. Siehst du’s?
Kleiner Junge: (mit großen Augen) Was ist das hier? (schaut auf eine endlose Ebene voller Städte und Natur im friedlichen orangeroten Abendlicht)
Junge: (stolz) Ich nenne es Freiheit.
Kleiner Junge: (schaut sich um) Das ist so anders als bei uns. Viel bunter. Warum sind wir nicht da unten … bei dieser Freiheit?
Junge: Wir können ja nicht hinunter, oder? (legt den Kopf nach vorn und deutet nach unten) Schau mal, wie tief.
Kleiner Junge: (schaut ebenfalls nach unten, erschrocken) O ja, stimmt. Das ist tief. (hebt den Blick wieder und blinzelt erneut) Aber ich würde schon einmal da hin. Geht das denn nicht?
Junge: Die Mauer ist ganz lang. Die da oben wollen nicht, dass wir das sehen. Deswegen ist die Mauer ganz lang und ganz hoch. (lässt die Beine baumeln)
Kleiner Junge: (schaut den Jungen an, hoffnungsvoll) Aber wir schauen es uns trotzdem an, nicht wahr? Das tun wir doch.
Junge: (lässt seinen Blick über die Landschaft unter sich wandern) Ja, sicher tun wir das.

(Zu zweit blicken sie in den Himmel, bis die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist.)

Kommentare

  1. Von Harley am

    Richtig gut geschrieben. Sehr süß aber gleichzeitig auch irgendwie traurig. Ich würde definitiv weiter lesen. 🙂

  2. Von Dorothee am

    Ich habe Gänsehaut..

  3. Von Claudia am

    Eine anregende Allegorie auf unseren Umgang mit der Freiheit! Ich wünsche den beiden, dass sie den Mut finden, die Mauer nicht nur mit den Augen zu überwinden versuchen.
    Meine 5 ⭐️e sind dein – was wäre das aufregend, wenn es aufgeführt würde!!!

  4. Von Shado am

    Wunderschöne Love-Story.

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