Wo das Glück liegt

// In der Mitte der Bühne steht ein Käfig, in dem ein bunter Vogel sitzt. Ein Papierflieger kommt vorbeigeschwebt und macht Halt vor dem Käfig.
V: Sag, wie geht es dir dort draußen?
P: Sag, wie geht es dir dort drinnen?
V: Es ist nicht schlecht. Ich habe Essen und Trinken genug, kann meine Bedürfnisse stillen und beobachtete Vorbeikommende wie dich.
P: Wird es dir nicht langweilig, im Käfig dort drin?
V: Was soll schon langweilig sein, wenn ich glücklich bin.
// Es folgt eine leise Pause.
P: (nachdenklich) Hm.
V: Was ‘Hm’?
P: Ich sah viele wie dich. Sie sitzen und schauen dem Horizont entgegen, doch überqueren tun sie ihn nie. Sie sagen, sie sind zufrieden, doch können sie wirklich wissen, ob sich nicht viel größeres Glück da draußen verbirgt?
V: Ich sah ebenso viele wie dich. Kommen und gehen und verweilen nie länger als nötig. Sie kennen das wahre Glück nicht, weil sie an jedem Moment nur oberflächlich vorbeiziehen und niemals und nichts vollkommen auskosten.
P: Du sagst, ich bin nicht glücklich. Du hast Flügel genauso wie ich. Wieso sollten wir sie nicht nutzen?
V: Sie sind eine Option, doch keine Notwendigkeit.
P: Wenn du sagst, dass ich unglücklicher bin als du, biete mir dein Glück für einen Tag und ich werde dir meines geben.
// Der Vogel stößt die Tür auf und beide sagen zugleich voller Stolz:
V: Komm hinein und nimm meinen Platz ein. Du wirst sehen, dass dein Glück größer ist als zuzvor.
P: Komm hinaus und nimm meinen Platz ein. Du wirst sehen, dass dein Glück größer ist als zuzvor.
// Der Vogel fliegt von Dannen, die Lichter gehen aus und wieder an und ein Tag ist vergangen. Der Vogel kommt zurück.
P: Nun, wie ist es dir ergangen?
V: Ich sah die Dinge wie du sie siehst.
P: Und ist es schön?
V: (nickend) Es ist schön.
P: (zufrieden) Genau wie die Dinge, die du aus diesem Käfig siehst.
// Wieder beide zugleich:
P: Lass uns das Glück noch länger tauschen.
V: Lass uns das Glück noch länger tauschen.
// Der Vogel verschwindet, die Lichter gehen aus und an und aus und an und es vergehen Wochen und Monate. Schließlich kommt der Vogel zurück.
V; Nun, wie ist es dir ergangen?
P: Ich sah die Dinge wie du sie siehst, doch …
V: (vorsichtig) Doch?
P: Ich sehne mich zurück. Ich vermisse die Berge und Hügel, Wiesen und Wälder, die ich sah, als ich noch frei war.
V: Mir geht es ebenso. Ich vermisse die Ruhe und Stille, die Geborgenheit und Sicherheit, als ich noch wusste, wo meine Grenzen liegen.
// Beide zugleich:
V: Bitte tritt dein Glück wieder an mich ab.
P: Bitte tritt dein Glück wieder an mich ab.
// Beide wechseln erneut die Position, kehren von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen zurück.
P: Ich bedanke mich.
V: Ich bedanke mich auch.
// Zusammen, bevor der Papierflieger verschwindet:
P: Nun verstehe ich dein Glück. Und meines umso mehr.
V: Nun verstehe ich dein Glück. Und meines umso mehr.

Kommentare

  1. Von Brunhilde Salibonani am

    Ich finde es etwas Salibonanich, dass es oft Stellen gibt an denen beide Personen gleichzeitig sprechen. Salibonanich = unpassend da es wie ein ,,Schwur´´ klingt. Ansonsten schöne Idee und gut geschrieben. Nur etwas lang für ein MINI Drama. ☺

  2. Von kawasaki am

    ❤ Geiles Gedicht

  3. Von Lilly am

    Es macht Spaß zu lesen. Das es untererschiedliche Welten für die Beiden sind und das sie es ausprobieren dürfen. Ich finde das Minidrama wirklich gut.

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