Muschelsuchen in der Fremde

Ein grosses, weisses Haus mit überdimensionalen Fenstern und muschelfarbigen Vorhängen, die die Aussicht auf das Meer noch kitschiger erscheinen lassen, soll es sein. Kitsch ist Pflicht, wenn schon, denn schon, hat Mutter immer gesagt. Das kann ich dem Makler aber natürlich nicht sagen, denn er ist süss und ich versuche gerade verzweifelt, einen reifen, ernsthaften Eindruck, trotz pinkem Kuschelpulli und rosafarbenem Maxirock, zu hinterlassen. Ich hatte doch nicht damit gerechnet, dass der Typ süss sein würde. Niemals. Am Telefon hat er wie einer dieser alten, verklemmten Dinosaurier geklungen, die schon mit dem einen Fuss mitten im Grab stehen.
Normalerweise ziehe ich mich äusserst geschmackvoll an, versteht sich. Aber nicht an fremden Orten, wo mich niemand kennt und ich niemanden kennen will. Aber hätte ich gewusst, dass er…
„Was haben sie sich denn genau vorgestellt, M’am?“, fragt er mich.
„Meersicht“, sage ich.
„Und sonst?“, fragt er lächelnd.
„Es sollte gross und geräumig sein.“
„Da lässt sich bestimmt was machen“, meint er.
Ich schwitze entsetzlich. Ich hasse dieses Klima. Am frühen Morgen ist es so kalt, dass man meint, man befinde sich am Nordpol oder in den Schweizer Bergen. Und am Mittag kommt dann die Sonne und man ist plötzlich in der Sauna. Grauenhaft, manchmal da frage ich mich, wieso ich mich überhaupt an meinem Mädchentraum festklammern muss. Doch ich hatte mir immer geschworen, dass ich, wenn ich mal zu Geld kommen sollte, ein grosses, weisses Haus an einer Klippe kaufen würde. Irgendwo ganz weit weg. Und dann schreiben würde. Nichts beflügelt den Geist mehr als die Rauheit der Natur.
Und nun sitze ich also hier, ganz in pink, und suche nach Worten, die meinen Traum, von dem ich niemals geglaubt hätte, dass er jemals Realität wird, seriös erscheinen lassen. Hätte Opa nicht vergessen, dass er auf Nüsse allergisch ist, und eine ganze Bündner Nusstorte gegessen, dann wäre ich jetzt nicht hier. Armer Opa…
„Ich werde Sie telefonisch benachrichtigen, wenn ich der Ansicht bin, etwas Passendes für Sie gefunden zu haben. Budgetlimite?“
„Danke, keine“, antworte ich.

Das Hotel, in dem ich momentan wohne, ist auch ganz nett. Okay, ganz nett ist untertrieben, es ist phantastisch. Wenn man sein ganzes Leben von einem Studentenlohn leben musste, (also ohne Geld) so kann man schon mal ins Schwärmen geraten. Und darf man auch, finde ich. Soll man sogar. Man sollte nichts für selbstverständlich nehmen.
Ich setze mich an die Bar und, obwohl es erst vier Uhr nachmittags ist, bestelle ich mir einen Swimmingpool. Es fühlt sich komisch an, wenn Geld plötzlich keine Rolle mehr spielt. Ich hoffe, dass ich mich nie daran gewöhnen werde. Denn Normalität ist das, was ich am meisten verabscheue. Sogar noch mehr als Spinnen und Zwiebeln (in meiner Familie wird die Zwiebelphobie genetisch dominant vererbt).
Als der Barkeeper nicht einmal nach meinem Ausweis fragt, da hebt sich meine Stimmung von überglücklich auf euphorisch an. Obwohl ich bereits neunzehn bin, denken viele, ich sei noch nicht einmal sechzehn. Ein entsetzliches Gefühl, doch zum Glück gibt es Make-up und Push-up-BHs.
Seltsam, irgendwie, aber hier fühle ich mich weniger fremd und deplatziert, als ich mich jemals zu Hause gefühlt habe. Vielleicht brauchte ich diesen Klimawechsel. Ich glaube sogar, dass ich ohne ihn verrückt geworden wäre. So wie Anna. Doch ich will jetzt nicht an zu Hause denken oder an Anna oder an das, was sein wird oder eben nicht. Ich will geniessen. Den Moment.

„Sehr schöne 300 m2 Villa, direkt am Strand, Südlage, mit freiem Ausblick. Vor dem Haus gibt es eine kleine Terrasse, wovon man am Abend die wunderschönsten Sonnenuntergänge sehen kann, unter dem Genuss eines Gläschen Weins und etwas zu essen…“
Ich nicke. Heute habe ich mich in Schale geschmissen, kein rosa Kuschelpulli sondern mein (leider gefaktes) himmelblaues Lacoste Shirt mit meinen (echten, aber auf ricardo für CHF 15.- ersteigerten) Abercrombie-Jeans. Dazu trage ich sehr viel Schminke und sehr viel Parfum. Mein Makler mustert mich neugierig, was jedoch vermutlich nicht an meiner Aufmachung, sondern an meinem Schweigen liegt.
„Hübsch“, sage ich schliesslich.
„Das Haus verfügt über eine Terrasse, zwei Schlafzimmer, eine vollausgestattete Küche und ein modernes Bad. Es wurde 2014 erst restauriert und neu eingerichtet. Der große Garten bietet viel Platz und schattige Plätze zum Entspannen“, fährt er schliesslich fort.
Ich nicke wieder, weil ich nicht weiss, was ich sonst tun soll. Das Haus ist hübsch, wenn nicht sogar schön. Doch ich will eine Klippe. Ich will Abgeschiedenheit. Ich glaube, selbst wenn dieses Haus an einer Klippe stehen würde, die Vorhänge muschelfarben und die Fenster drei Mal so gross wären, wie ich es bin (zwei Mal ist nicht schwer, ich bin nur eins achtundfünfzig). Selbst dann könnte ich es nicht nehmen. Ich will das Ganze in die Länge ziehen und ich weiss, dass das falsch ist. Denn ich weiss noch nicht mal seinen Vornamen.
„Haben Sie Kinder?“, fragt er mich.
Ich lache, schüttle den Kopf, lache wieder. Er schaut mich verwirrt an. Oh nein, er ist ja Italiener. Italiener mögen Kinder. Ich für meinen Teil, finde sie niedlich, ja. So lange sie schlafen und nicht alles vollscheissen. Und wenn sie schreien, dann verspüre ich das Bedürfnis, zehnmal lauter zu schreien, um ihnen zu zeigen, wer der Boss ist.
„Haben Sie Kinder?“, frage ich ihn dann.
Zu meinem Entsetzen nickt er.
„Einen Sohn, Giuseppe, vier Jahre alt.“
„Wie alt sind Sie?“, frage ich ihn entgeistert.
Er lacht lange und laut.
„Dreiundzwanzig, Sie?“
„Neunzehn.“
„Mögen Sie denn keine Kinder?“, fragt er mich.
„Doch“, sage ich und bin mir nicht sicher, ob das jetzt gelogen ist oder nicht.
„Haben Sie Lust, heute Abend mit meinem Sohn Muschelsuchen zu gehen?“, fragt er mich.
Muschelsuchen. Mit seinem Sohn. In der Fremde.
„Okay“, sage ich begeistert.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass dort, wo dir die Heimat zur Fremde wird, dir die Fremde zur Heimat wird. Doch dass dies schon nach einigen Tagen geschehen kann, das hätte ich nicht erwartet. Und dass ich mich verlieben sollte, war nicht geplant.
Wir schlendern Hand in Hand den Strand entlang, eine sanfte Brise zerzaust mir das Haar. Giuseppe lässt meine Hand los, rennt auf seinen Vater zu, der ihn behutsam hochhebt. Ich winke ihnen zu, sie winken zurück. Seltsam, wie das Leben manchmal spielt.
Heimat ist im Gehirn jedes Menschen präsent, besteht aus einer Unmenge von Engrammen. Je länger man an einem Ort verweilt, desto stärker sind die Engramme synaptisch verfestigt, sofern sie emotional positiv korrelieren. In existenzphilosophischer Hinsicht stellt Heimat, in Wechselbeziehung zum Begriff der Fremde, eine räumliche und auch zeitbezogene Orientierung zur Selbstfindung des Menschen bereit. Doch für mich ist Heimat das hier und jetzt. Dieser Moment. Ich bin noch nie so weit von zu Hause weg gewesen und doch so nah bei mir selbst.

Kommentare

  1. Von Laura am

    Finde alles sehr kompliziert geschrieben .Einfachere Wörter hätten es angenehmer zum lesen gemacht .

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