Es war einmal…

(ERZÄHLER, mit Brille und Märchenbuch auf dem Schoß, sitzt in einem Sessel auf der Bühne. Er schlägt das Buch auf und fängt an, mit Vorleserstimme vorzulesen.)
ERZÄHLER: … doch der Prinz verendete qualvoll in den Dornen und die Prinzessin wurde nicht befreit. Und wenn sie nicht aufgewacht ist, dann schläft sie auch heute noch. (Schaut genervt auf und schiebt seine Brille nach oben. Zum Publikum.) Tut mir leid, dass Sie sich das anhören müssen. Etwas anderes als Tragik fällt mir nie ein. (Seufzt.) Versuchen wir es nochmal. (Räuspert sich.) Es war einmal vor langer, langer Zeit eine Prinzessin. (PRINZESSIN kommt auf die Bühne. ERZÄHLER nickt ihr zu und liest etwas sarkastisch weiter) Sie lebte in einem riesigen Schloss und trug wunderschöne Kleider. (Bricht ab und stöhnt.) Okay, keine Ahnung, wie wir weitermachen können. Vielleicht… fangen wir an mit einem Kuss zwischen Prinz und Prinzessin. (Romantische Musik. Ein PRINZ kommt auf die Bühne, bewegt sich mit einem strahlenden Lächeln auf die Prinzessin zu und will sie küssen.)
PRINZESSIN: Moment. Ich küsse hier gar niemanden. (Musik stoppt. PRINZ ist verwirrt.)
ERZÄHLER: Stimmt, wir brauchen eine Vorgeschichte. Wie wäre es, wenn der Prinz die Prinzessin vor einem gefährlichen Drachen beschützt.
PRINZ (kleinlaut): Aber… ich kann doch gar nicht kämpfen.
ERZÄHLER: Ach du meine Güte.
PRINZESSIN: Ich kann kämpfen!
ERZÄHLER (übergeht sie): Dann treffen sich die beiden eben auf einem Ball. Kerzenlicht, Orchestermusik vom Feinsten, endlich fordert der Prinz seine Geliebte zum Tanz auf…
PRINZ (noch kleinlauter): Aber… ich kann auch nicht tanzen.
ERZÄHLER (verzweifelt): Dann vielleicht… ein Gedicht?
PRINZ (räuspert sich, stellt sich in die Mitte der Bühne):Die Augen vom tiefsten Veilchenblau,
sodass ich meinen eig’nen kaum noch trau‘
Ihre Lippen so zart, dass ich es kaum vermag mein…
PRINZESSIN (unterbricht ihn): Ich kotz im Strahl. Das kann sich ja keiner anhören.
ERZÄHLER: Das hat doch alles keinen Sinn. Wir machen jetzt Kuss und Ende.
(PRINZESSIN sieht PRINZ wenig begeistert an.)
ERZÄHLER: Jetzt küsst euch doch endlich! Wir brauchen ein Happy End!
PRINZESSIN: Aber ich will ihn doch gar nicht küssen! Vorhin nicht und jetzt erst recht nicht!
ERZÄHLER: Mimimi! Ich bin hier der Erzähler. De facto bestimme ich auch, was hier passiert! Und ich brauche jetzt ein Ende.
PRINZESSIN: Ich weigere mich. Als emanzipierte Persönlichkeit sehe ich mich dazu in der Lage, selbst zu entscheiden, wen ich küsse und wen nicht. Überhaupt könnte man das, was sie hier veranstalten, als sexuelle Nötigung bezeichnen. Ich könnte Sie anklagen und…
ERZÄHLER (unterbricht sie genervt): Gut, dann küsse ich den Prinzen eben! (Küsst den Prinzen)
PRINZESSIN (entsetzt): Aber…?! (ERZÄHLER löst sich mit einem etwas belämmerten Lächeln vom Prinzen)
ERZÄHLER: Wow, das war… also… wow! (PRINZ und ERZÄHLER küssen sich wieder)
PRINZESSIN (genervt): Und wenn sei nicht gestorben sind, dann küssen sie sich noch heute.

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