Die falsche Selbstwahrnehmung der Stille

Personen: Stille, Mensch
Ein Mensch sitzt allein im Wald auf einer Sitzbank. Kein Geräusch ist zu hören. Die Stille schleicht sich an und bleibt direkt hinter dem Menschen stehen. Der Mensch zuckt zusammen und erschaudert.
Stille: Hast du mich etwa gehört? Ich war doch still… .
Mensch: Natürlich habe ich dich gehört, warum sollte ich nicht? Du warst erschreckend laut.
Stille,: Wie kannst du mich denn hören, ich bin die Stille. Ich mache keine Geräusche!
Mensch: Naja, du hast schon recht: meistens höre ich wirklich nichts, wenn du um mich herum bist. Aber andere Male ist deine Anwesenheit nicht zu überhören.
Stille blickt den Menschen an, das Gesicht vor Befremden in Falten gelegt.
Stille: Worauf willst du hinaus? Wenn ich da bin, gibt es keine Geräusche…
Mensch: Ich hab´ es dir gesagt: du bist nur manchmal laut. Das kommt aber darauf an, wer dich begleitet.
Stille: Du verwirrst mich. Ich komme immer alleine. Warum sollte mich wer begleiten, ich bin doch an niemanden gebunden!
Stille zieht die Augenbrauen zusammen und spannt den Kiefer.
Mensch, : Warte… du wusstest nicht, dass du nie alleine kommst? Du hast eine komplett falsche Wahrnehmung deines Selbst!
Stille und Mensch sehen sich in die Augen; die angespannte Stimmung löst sich. Stille guckt, als wäre ihr ein Licht aufgegangen.
Mensch: Was dachtest du denn von dir? Wie nimmst du dich wahr?
Stille: Ich dachte immer, ich wäre leise und meine Anwesenheit würde jedes Geräusch auslöschen. Außerdem war mich nicht bewusst, dass ich von anderen abhängig bin. Ich bin davon ausgegangen, dass man mich gerne um sich hat, weil ich ein befreiender Zustand bin. Leichtigkeit.: Aber so ist es wohl nicht, ich hab gemerkt, dass es dir unheimlich war, als ich hinter dir stand.
Mensch: Erst einmal, du kannst so dröhnen, dass man lieber Geräusche um sich hat, als dich. Das hat aber nichts mit dir zu tun, sondern mit deinem Begleiter. Vorhin warst du mit dem Unbehagen zusammen. Ich hab es vorher schon wahrgenommen, weil ich hier alleine war. Dann seid ihr gekommen und du hast dich hier ausgebreitet; der Schauer hat sich dann durch das Unbehagen verstärkt.
Stille: Also bin ich nicht wirklich erwünscht, wenn mein Begleiter ein negatives Gefühl ist? Und was ist, wenn ich einen netten Begleiter habe…
Stille grübelt.
Mensch: Wenn dein Begleiter etwas Negatives ausstrahlt, habe ich das Gefühl, dass du so laut bist, dass ich dich kaum ertragen kann, dann sind Geräusche angenehmer. Aber wenn du beispielsweise von der Beruhigung begleitet wirst, ist dein Wesen unglaublich angenehm. Und dann gibst du auch keine Geräusche von dir.
Stille: Kann ich denn meine Begleiter beeinflussen? Ich will anderen kein unheimliches Gefühl geben!
Stille schaut Mensch mit großen Augen an. Mensch wird nachdenklich.
Mensch: >Pause< Nein, ich denke, das kannst du nicht. Tut mir leid… Dein Begleiter hängt von einem Gefühl ab, dass der Mensch, den du umgeben willst, schon vorher hat. Der Begleiter ist ein Verstärker des Gefühls und gibt dann Ausschlag, wie du wahrgenommen wirst.
Stille,: Oh, das hätte ich nicht erwartet. Trotzdem ergibt es irgendwie so viel Sinn… Aber sag doch mal, warum du erschaudert bist; bringe ich keine Leichtigkeit?
Mensch errötet etwas.
Mensch: Also das ist wie mit deiner Lautstärke. Betont das Wort Lautstärke, zieht den Satz in die Länge. Du bist manchmal sehr leicht, andere Male bist du schwer, sogar erdrückend.
Stille: Was?! Ich bin erdrückend, also kann ich jemanden verletzen?
Stille kann sich nicht an ihre eigentliche Erscheinung gewöhnen.
Mensch: Es hängt auch hier von deinem Begleiter ab, welche Last du trägst. Vorhin habe ich ja schon Unbehagen gefühlt und du warst ziemlich laut. Man könnte sagen, je lauter du bist, desto erdrückender wirst du.
Stille: Fällt dir ein Beispiel ein, eine Extrem-Situation? Ich will das jetzt alles verstehen.
Stille wirkt entschlossen.
Mensch,: Als du gestern bei mir warst, hat dich die Verzweiflung begleitet. Mir ging es schon vorher nicht so gut, weil ich überfordert war. Ich war gestern auch alleine und kurz bevor ihr euch breit gemacht habt, waren die Geräusche sehr leise. Du warst unglaublich laut, hast schon geschrien und mich erdrückt. Die Verzweiflung hat das alles verstärkt. Ich wollte irgendein anderes Geräusch hören, damit du deine Last von mir nimmst.
Stille: Okay, ich bin etwas erschrocken… Ich wollte dich sicher nicht erdrücken. Also werde ich beeinflusst und bin nur erdrückend, wenn es dir schon schlecht geht?
Mensch: Genau, du hast es verstanden. Ich war einsam und mir ging es schlecht. Weil du schon nahe warst, musste ich mich mit meinen Gedanken beschäftigen und durch dich wurde das alles zu viel. Am schlimmsten bist du mit der Einsamkeit, dann hält man dich kaum aus.
Stille starrt Mensch an, den Kopf eingezogen. Mensch blickt ermunternd zurück.
Mensch: Mach dir keine Sorgen, wie du jetzt wissen solltest, liegt es nicht an dir. Ich mag dich als Zustand trotzdem. Mensch lächelt.
Stille: Gut, da bin ich beruhigt. Danke, dass du mir erklärt hast, wie ich wirklich bin…
Mensch: Ich fand es sehr spannend, deine eigene Wahrnehmung kennenzulernen.
Stille: Ich werde jetzt wieder gehen, wenn wir uns wieder sehen, hoffe ich, einen netten Begleiter mitbringen zu können.
Stille schmunzelt.
Stille löst sich aus der Umgebung und die Geräusche kehren zurück. Stille winkt dem Menschen zu und dreht sich, um zu verschwinden.
Mensch will ihr zuwinken, merkt dann aber, dass die Geräusche wieder verschwinden. Die Stille kommt wieder zurück und breitet sich leicht aus.
Stille: Ich wollte dich nur fragen, wie du mich jetzt wahrgenommen hast, mein letzter Eindruck sollte positiv sein.
Beide lachen.
Mensch: Jetzt erscheinst du freundlich, ich glaube deine Begleiter haben sich abgelöst. Und du bist kaum zu hören.
Stille ist zufrieden. Mensch will sich noch verabschieden, aber Stille ist schon davon gerauscht. Geräusche werden lauter, wie ein Radio, dass langsam aufgedreht wird…

Kommentare

  1. Von Julius am

    Interessante Gedanken über die Stille. Es wäre spannend zu sehen, wie man „Stille“ auf der Bühne verkörpern kann.

  2. Von Friederike am

    Ein interessantes “Treffen” und die Inszenierung stellt sicherlich eine Herausforderung dar! Ich wäre sehr gespannt auf die Umsetzung! TOP!

  3. Von Gerrit am

    Ich bin mal gespannt wie die Stille gespielt wird. Aus dem Text kann ein gutes Stück entstehen.

  4. Von Jeremy jason am

    Sehr geil lol

  5. Von Axel Schweiß am

    Merkwürdig, wenn die “Stille” alles andere als still ist …

  6. Von Michael am

    Interessante, stille Gedanken. Eine inszenatorische Umsetzung provoziert viele Fragen und Möglichkeiten.

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