Graue Blumen

Szenerie: Ein Tisch in einem Café, in dem es keine anderen Tische gibt. Nur R ist auf der Bühne. V kommt auf die Bühne in dem Moment, in dem R anfängt zu sprechen.
R:
(zum Publikum)
V sieht müde aus, als sie ihren Stuhl an den Tisch mit den zwei ungeöffneten Drehverschlussflaschen heranrückt. Wir haben den gestrigen Abend miteinander verbracht und ich frage:
(zu V)
War das zu viel?
V:
(zum Publikum)
Während er redet, massiere ich meine Schläfe oder reibe mir den Schlaf aus den sich unbeweglich anfühlenden Augen. Die Nacht, sage ich leise zu mir. Wir haben die Nacht zusammen verbracht.
R:
Das stimmt so nun auch nicht ganz.
(zum Publikum)
Sie hebt den Blick zum Tapetenriss, von dem ich weiß, dass er knapp über meinem Kopf an der Wand hinter mir ist.
(Zu V)
Wir haben einen Teil der Nacht miteinander verbracht.

Dreißig Sekunden Stille.

R:
(zu V)
Der Traum!
(zum Publikum)
ich hatte ihr geschrieben,, dass ich ihn auf keinen Fall in einem Chatverlauf verewigen könnte
(zu V)
Der Traum setzt kurz vorm eigentlichen Abschied ein: beim Stochern im Türschloss küssen wir uns, irgendwann stehst du mit dem Rücken zu der silbernen Briefkastenreihe. Wir haben Sex im Treppenhaus, wo ich mein Fahrrad abgestellt hatte, und mittendrin sagst du, dass wir zu Delphinen werden, wenn wir das machen und ich frage, ob wir aufhören sollten und du sagst, dass du eigentlich immer schon Delphin werden wolltest. Und als es vorbei war, waren wir wirklich Delphine, aber es war nicht schlimm, dass wir nur Laute von uns geben konnten, die wir nicht verstanden. Es war irgendwie eine Sprache, die noch nicht vorbelastet war und morgens kam die alte Nachbarin von nebenan, mit so einem hässlichen grau-geblümten Kleid kam sie die knarzende Treppe herunter und hat einen Herzinfarkt bekommen, als sie die 2 Delphine gesehen hat. Das hat dich sehr gefreut, weil du diese ergrauten Blumen so schrecklich fandest. Aber dann wurden wir bald traurig, weil es kein Wasser gab.
V:
Wenn ich ein Tier wäre, wäre ich aber kein Delphin. Ich wäre ein Vogel.
R:
Pinguin?
V:
Es geht ja gerade um die Flügel, sagt sie, um das Fliegen. Und wie gemein ich in deinem Traum bin.
R:
Wieso gemein?
V:
Ich freue mich, dass meine Nachbarin tot ist.
R:
Aber sie hätte etwas Grausames getan. Sie hätte die Polizei gerufen und dann hätten sie uns fotografiert und in die Zeitung gedruckt und in einen Zoo gesteckt, in getrennte Gehege.
V:
Hat sie das gesagt, bevor sie den Herzinfarkt bekam?
R:
Nein. Sie hat gar nichts gesagt, sie hat nur geröchelt.
V:
Woher weißt du dann, dass sie das getan hätte.
R:
Ich weiß es einfach. Sie wäre neidisch gewesen, wenn sie uns da gesehen hätte.
Jedenfalls roch es ein bisschen nach Stall, weil du in einem sanierungsbedürftigen Altbau wohnst, du hast dich oft über diesen Geruch beschwert, aber da passte er ein bisschen. Die Fliesen waren kalt, als wir noch Menschen waren, hatten unsere Körper ihm eine pulsierende Wärme entgegenzusetzen, sodass wir nicht froren. Als wir Delphine waren, glitschten und rutschten wir auf dem Boden, ein kontaktloses, spaßiges Gleiten war das. Wenn das Licht im Treppenhaus ausging, dann wurden unsere Bewegungen weitläufiger und kräftiger, damit es wieder anging: wenn es hell wurde, erschlafften sie. Morgens fand uns dann der Postbote, bevor die alte Nachbarin ihren Herzinfarkt bekam. Er stieg über unsere Körper hinweg und sammelte unsere Kleider auf. Er war sehr besorgt und fragte uns, ob es nicht kalt sei. Trotz unserer Delphingestalt wusste er, dass wir Menschen gewesen waren. Wir schüttelten gleichzeitig die Schnäbel und sie stießen gegeneinander. Da endet der Traum.
V:
Haben Träume dieser Art nicht immer einen Twist?
R:
Willst du, dass er einen Twist hat?
V:
Ich will, dass er realistisch bleibt. Auch Träume folgen einer ihnen immanenten Logik.
R:
Das ist nicht der Sinn von Träumen.
V:
War es denn ein Traum?
R:
Was meinst du?
V:
Dass du dein Unterbewusstsein ins Feld führst, um mir etwas zu sagen.
R:
Was sollte ich dir denn sagen wollen. Es war nur ein Traum. Ich fand ihn witzig.
V:
Du meinst also, Träume bedeuten nichts?
R:
Willst du, dass der Traum eine Bedeutung hat?
V:
(zum Publik)
Habt ihr das gemerkt? Sein Tonfall hat einen aufgeregten Ausfallschritt nach oben gemacht.
R:
(zum Publik, während V einen Schluck aus der Glasflasche nimmt. Graue Blumen regnen von oben auf sie herab.)
V nimmt einen Schluck aus der Flasche, die ich bestellt hatte. Ich will noch etwas klarstellen, aber dann fällt etwas vom Gewicht einer Feder auf mein Haupthaar. Es ist aber keine Feder, sondern eine graue Blume aus Stoff. Ich schaue nach oben und sehe die Nachbarin an der Decke kleben. Stück für Stück lösen sich die grauen Blumen aus ihrem Kleid und schneien durchs Café, bis der ganze Boden von ihnen bedeckt ist. Ich mache Sofia darauf aufmerksam, aber sie nimmt nur einen weiteren Schluck. Sie schaut nicht mal nach oben. Viele Blumen sind aus dem Kleid der alten Nachbarin gefallen, ich glaube, dass sie nackt ist.
V:
(zum Publikum)
Wir betrachten und fragen uns
R:
(zum Publikum)
ob wir wirklich glauben
V:
(zum Publikum)
dass das funktionieren könnte oder
R:
(zum Publikum)
ob uns bloß langweilig ist.
V:
(zu R)
Während wir nach draußen gehen, schlagen wir eine Schneise in den Bodenbelag.
R:
(zu V)
Unsere Scherenschnitte wischen die grauen Blumen aus dem Weg, als wären sie Alltag.

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