Identitärer Zwiespalt

1: Sieh mich an.
2: Nein.
1: Sieh mich an.
2: Ich kann nicht.
1: Sieh mir in die Augen und sag, was du eben gesagt hast. Als ich nicht hingeguckt habe.
2: Ich kann dich nicht mehr sehen. Es ist, als wärst du verschwunden.
1: Verschwunden? Wohin verschwunden?
2: Ich weiß nicht… Ich habe dich nur kurz gesehen und bin erstarrt und seitdem bist du fort.
1: Warum?
2: Warum was?
1: Warum bist du erstarrt?
2: Ich bin zerrissen.
1: Entzwei?
2: Zwischen dem, was ich will und dem, was du bist.
1: Ich bin du.
2: Nein, bist du nicht. Du denkst, du wärst es, aber wir unterscheiden uns.
1: Worin?
2: In dem, was ich bin und dem, was du willst.
1: Das ist sinnlos. Unmöglich.
2: Hast du jemals überlegt, dass wir nicht zusammenpassen? Zwei Puzzleteile bei denen der Aufdruck stimmt – aber unsere Form ist eine andere. Du eckst an mir an. Wir sind nicht rund zusammen.
1: Und was – WAS daran bringt mich zum Verschwinden?
2: Wenn ich dich ansehe, kann ich mich nicht mehr erkennen, also verschwimmst du vor mir. Deine Kanten werden weich, sie zerfließen wie heißes Wachs in einer Kerze. Wenn ich dich ansehe, versuche dich zu greifen – gedanklich – verschwindest du in mir. Als würde deine Identität unklarer werden, je mehr ich versuche, sie zu verstehen.
1: Unmöglich. Das ist Unsinn, selbst für dich.
2: Es ist aber so.
1: Warum können wir nicht zusammen sein? Wir waren nie getrennt.
2: Rückblickend fühlt es sich an, als wären wir niemals eins gewesen.
Ich bin anders, als du vorgibst, zu sein. Ich bin nicht du und du bist nicht ich. Und manchmal, da ist es so, als würde ich…
1: …etwas vermissen, das nie da gewesen ist.
2: Woher weißt du das?
1: Deine Gedanken sind auch meine.
2: Warum verstehst du mich dann nicht?
1: Es ist nicht so, dass ich es nicht verstehe… Ich wünsche mir nur einen anderen Weg für dich. Ich wünschte, du müsstest nicht erst mich verändern, um zu dir zu finden.
2: …
1: Es wäre einfacher so.
2: Ich kann nicht verändern, wer ich bin. Ich wünschte, ich könnte dich sehen und mich darin erkennen. Ich wünschte, wir könnten zusammen sein, so wie du es dir vorstellst. Ich will nicht klischeehaft sein, aber es liegt nicht an dir, sondern…
1: …an mir.
2: Quasi – wie sollte es anders sein?
1: Das tut mir leid für dich.
2: Verstehst du jetzt, wieso du verschwindest, wenn ich dich ansehe?
1: Ein wenig. Es gibt da nur ein Problem.
2: Welches?
1: Ich bin dein Spiegelbild, ich kann nicht einfach gehen.

Kommentare

  1. Von stefanie am

    mega schön geschrieben und es löst so ein starkes gefühl von sehnsucht aus

  2. Von Enunzo am

    Wirklich sehr gut

  3. Von may bzzz am

    ein schön geschriebenes stück, welches einem durch seine knappe einfachheit glaubhaft sogar vertraut vorkommt und einen in sich gehen lässt

  4. Von Edwina am

    “Du eckst an mir an. Wir sind nicht rund zusammen” – woah wie schön das formuliert ist! <3

  5. Von Christian am

    Ein anregender Dialog, der einen Einblick in das gewährt, was das Entwickeln und Formen einer Identität ausmacht.

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