Realität und Träumerei

Mädchen betritt die Bühne, Gesicht zu einer traurigen Maske verzerrt.

Mädchen: „Hört mich an, ihr Menschenkinder. Sagt was haltet ihr voneinander, seht ihr in euch gute Menschen oder habt ihr schon das wahre Wesen der Natur erblickt: Es ist hässlich, schändlich und gemein, ja und bevor ihr hier denkt, ich würde mich nicht zu ihnen zählen, so lasst euch gesagt sein, ich tue es. Wir sind alle bedacht auf unseren eigenen Vorteil, suhlen uns in Egoismus. Und ihr, die da stets beschämt wegschaut, macht das auch. Jedermann tut es, wie einen alten Brauch. So ist das Leben, ungerecht und ohne Gnade. Einst waren wir alle mal Träumer, voller Hoffnung und Liebe in unseren Herzen, doch für uns gab es hier keinen Platz und schon bald passten wir uns an, wurden innerlich zu einem Kind der Traurigkeit. Niemand vermochte es dahinter zusehen, auf die unzähligen gequälten Seelen, die längst im Schatten der Zeit liegen. Wir können das nicht mehr lange, also lasst uns die Fantasie retten.“

*Mädchen verlässt, nach einem langen Blick in die Menge, die Bühne, dafür wird sie sogleich von einem Mann betreten, der ernst in die Menge schaut*

Mann: „Hört nicht auf ihre törichten Worte. Sie ist noch jung, weiß gar nicht worüber sie da spricht. Ihr seht doch ihre zierliche Gestalt, noch hat sie Flausen im Kopf, doch bald schon wird sie mit diesen Hirngespinsten aufhören, sie vergessen und sich in unsere Gesellschaft eingliedern. Verzeiht nun also ihre Worte.“

*Mann ab, Mädchen kommt zurück*

Mädchen: „So, nun bin ich wieder hier. Ein letztes Mal, um es euch zu verkünden. Es ist wahr, ich bin noch von zartem Alter, aber dies bestimmt nicht über den Geist eines Menschen. Versucht nun also zu begreifen, schützt jene die die Fantasie beschützen, sie noch tief in sich behalten, die die Träume mehr lieben als die bittere Realität. Diese, die ihr alle mal wart, versucht zu euch zurückzufinden, denn ihr könnt es sein, die Veränderung bringen.“

*Mädchen geht leise hinfort*

 

Kommentare

  1. Von Anja Gröne-Nolte am

    Das Drama entzückt und begeistert den Leser. Die Autorin stellt geistreich den schmalen Grad der Beurteilung zwischen Träumerei und Realität dar. Zurückhaltend überlässt die Autorin den Lesern, sich eine eigene Meinung zu bilden und regt alle Generation an, mit Zivilcourage – auch über selbst – nachzudenken.
    Ein Apell, die wenig gelebten Tugenden, wie Herzlichkeit, Liebe und Phantasie, nicht länger als naiv zu deklarieren.

  2. Von Uwe am

    Stilistisch sehr schön gelungen, wie ich finde. Ich persönlich kann mich ja der Rede des Mädchens nur anschließen, nur in einem Punkt muss ich Kritik an ihrer Rede üben:
    Zitat: “So, nun bin ich wieder hier. Ein letztes Mal, um es euch zu verkünden. Es ist wahr, ich bin noch von zartem Alter, aber dies bestimmt nicht über den Geist eines Menschen.”
    Ich würde schon sagen, dass das Mädchen damit unrecht hat. Betrachten wir zunächst einmal ein Menschenkind, das (wie wissenschaftliche Studien gezeigt haben) erst mit etwa fünf Monaten ein Bewusstsein entwickelt hat, dass mit dem eines erwachsenen Menschen vergleichbar ist. Ist der Geist eines solchen Babys vergleichbar mit dem Geist des Mädchens? Ferner werfen wir nun einen Blick in unsere Altersheime. Wie kommt es, dass Demenz eine typische Alterserkrankung ist? Jawohl, es muss etwas mit dem Alter zu tun haben!

    Schöne Geschichte, ich empfehle abschließend thematisch passend zum Drama das Lied “Fantasy” von der finnischen Powermetal-Band “Stratovarius”. \m/

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