Wenn mir die Welt gehört…

(In einem kleinen Raum sitzt eine alte Frau auf einem abgewetzten Sofa. An den Wänden hängen Fotos aus vergangenen Zeiten, an den Fenstern Spitzengardinen. Ein etwa zehnjähriger Junge liegt auf dem Teppichboden und starrt auf sein Smartphone. Aus dem Nebenraum hört man die gedämpfte Stimme der telefonierenden Mutter; die Tür ist angelehnt.)

Oma (sinnierend): Wir erben die Erde nicht von unseren Vorfahren, sondern leihen sie von unseren Kindern.

Junge: He Mama, hast du gehört, was Oma gesagt hat?

Mutter (genervt aus dem Nebenraum): Nein Schatz, und es ist mir auch egal.

Junge: Oma hat gesagt, dass die Welt den Kindern gehört, also…

Oma (unterbricht Jungen): So habe ich das nicht gemeint…

Junge (unterbricht Oma): Also Mama, wenn die Welt den Kindern gehört, warum bestimmst du dann über mich?

Vater (kommt aus Nebenraum): Was ist hier los? Nils-Frederick, machst du wieder Ärger? Gib Ruhe!

Mutter (aus anderem Nebenraum kommend): Ach, hallo Schatz! Der (deutet auf Jungen) nervt schon wieder. Kümmer dich! Ich muss wichtige Verhandlungen führen. Die Fabrikarbeiter streiken mal wieder, sie wollen einen höheren Lohn (verdreht genervt die Augen).

Vater: Und der SUV steckt in der Werkstatt. Ich weiß nicht, was da los ist (rauft sich stöhnend die Haare)!

Mutter (abwinkend): Ach, wir benutzen einfach weiter den Ersatz.

Sohn (zupft am Sakko des Vaters): Du Papa, Oma meint, dass die Welt den Kindern gehört. Warum…

Vater (unterbricht Sohn, schaut auf die Uhr): So, wir müssen dann auch bald los.

Sohn: Papa!

Vater: Jaja! Oma gehört doch eh in die Klapse; kann keinen klaren Gedanken mehr fassen!

Mutter (strenger Blick über Brillenrand): Aber Schatz! Oma sitzt neben dir.

Vater (gereizt): Und die da oben wollen eine Vermögenssteuer einführen…

Sohn: Werden wir dann arm?

Mutter (gereizt): Sohn, willst du nicht rausgehen?

Vater (murmelt geistesabwesend): Ich sollte unser Vermögen mehr im Ausland investieren…

Oma (beleidigt): Ich sage lieber nichts mehr.

Vater: Gut so.

Mutter: Aber Schatz!

Sohn: Oma, wenn die Welt den Kindern gehört…

Oma (Sohn unterbrechend): So habe ich das nicht gemeint…

Vater (Oma unterbrechend): Wir müssen dann auch los. Tschüss! (Zieht Sohn mit sich aus der Haustür.)

Mutter (telefonierend): Genau, Herr Hüllter, wir geben nicht nach. Diese armen Jammerlappen bekommen sonst noch genug Selbstvertrauen, um nach weniger Arbeitsstunden zu fordern…

Sohn: Also, wenn mir die Welt gehört…

(Vater schlägt die Autotür zu, lässt den Motor aufheulen. Mutter hechtet auf den Beifahrersitz.)

Mutter: Gib Gas!

(Auto düst davon. Oma schaut traurig hinterher.)

Kommentare

  1. Von Katharina am

    Sehr stark! Gefällt mir sehr gut!

  2. Von M am

    Ich finde du hast so schön und treffend diese Ignoranz und Miskommunikation dargestellt, es war echt packend zu lesen. Mit starken Botschaften, die du, meiner Meinung nach, richtig handwerklich schön in den Dialog verwoben hast. Ich würde gerne mehr von dir lesen 🙂

  3. Von M am

    Das hat für mich so gut diese Ignoranz und Miskommunikation dargestellt, war echt packend zu lesen. Eine starke Stimme und Botschadt, die du, meiner Meinung nach, richtig gekonnt künstlerisch verarbeitet hast. Würde gern mehr von dir lesen.

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