Kaugummi

Ich möchte vorab kurz darauf aufmerksam machen, dass hier sensible Themen angesprochen werden, wie sexueller Missbrauch. Wenn es dir damit nicht gut geht, du dich mit dem Thema unwohl fühlst, lies es dir vielleicht nicht durch oder hol dir jemanden mit an die Seite :).

Frau 1, Mann 1, Mann 2 sitzen mit Stühlen auf der Bühne.
Alle Schauspieler tragen schwarze, neutrale Kleidung.
Mann 1 trägt zusätzlich eine Krawatte.
Mann 1 steht auf, stellt sich vorne an den Rand der Bühne und tut so, als würde er in den Spiegel blicken, um sich zurechtzumachen und redet abwechselnd mit dem Publikum:
Ich bin Rechtsanwalt. Ich kleide mich immer sehr schick, wenn ich aus dem Haus gehe, weil es mein Arbeitgeber so von mir verlangt. Er sagt, einen Mann ohne Krawatte wolle niemand haben. Diese Krawatte muss möglichst gepflegt oder groß sein. Das ist ihm wirklich sehr wichtig. Er selbst pflegt diese Ansprüche sogar bei seinen Praktikanten, besonders bei seinen Praktikanten! Bei unzureichender Bedürfniserfüllung können sie ansonsten sehr schnell entlassen werden. Ja, so ist mein Chef. Deswegen gehe ich immer mit einer Krawatte vor die Tür. Meine ist schwarz. Sie ist kaum von anderen zu unterscheiden, aber sie ist von Dior. Für seinen Arbeitgeber blättert man da auch mal ein bisschen mehr hin, nicht wahr? Sein Interesse zu gewinnen ist nämlich gar nicht so einfach, vor allem nicht, wenn man nicht die schickste Krawatte trägt, mit Leopardenmuster zum Beispiel oder eine rot-weiß-karierte. Dann sieht er einfach durch dich hindurch. Du bist unsichtbar. Ohne Krawatte bist du nichts wert, ein Niemand. Ja, als ein Niemand fühlt man sich. (kurze Pause) Aber, was soll’s, was soll man auch machen?
Heute muss ich mich jedenfalls besonders schick machen. Ich habe meine äußere Erscheinung jetzt bestimmt schon 100mal überprüfen müssen. Ich muss sagen, ich bin schon etwas aufgeregt. Er hat mich nämlich zum Essen eingeladen, mein Chef. Das macht er häufig mit neuen Praktikanten, aber nur selten bei seinen richtigen Angestellten. Vielleicht hatte er gesehen, dass meine Krawatte nur für ihn mit extra Nadeln an meinem Hemd festgetackert war. Das hat zwar manchmal etwas gepikst, aber scheinbar war es die Mühe wert. Er hat mir sogar den Tipp gegeben, es mit Kaugummi zu versuchen. Kaugummi solle kleben! Auf so eine Idee bin ich auch noch nicht gekommen. So solle alles besser halten. So kann ich ihm vielleicht beweisen, dass ich die Mühe wert bin. Ich bin es doch wert, oder?

Während Frau 1 sich erhebt und mit ihrem Stuhl nach vorne kommt, geht Mann 1 ins Off. Frau 1 erzählt ihre Geschichte dem Publikum, als würde sie alles unmittelbar erleben und wahrnehmen:
Und dann sitze ich da, in der U-Bahn. Mir ist langweilig. Dann lenke ich mich in meiner Trostlosigkeit oft mit meinem Handy ab, aber das innere Bedürfnis nach Erfüllung kann es mir auch nicht nehmen. Und so sitze ich dann da. Die U-Bahn hält bei der Wilhemsdorfer. Ich könnte der Langeweile wieder mit meinem Handy entgehen, aber ich habe etwas entdeckt. Ein solches Wesen sehe ich häufig, doch diese Art von Aufmerksamkeit zu bekommen, ist nicht gerade leicht. (Frau 1 beobachtet eine weitere Schauspielerin (Frau 2) aus dem Off, wie sie sich auf einen Stuhl zwei Meter weiter setzt) Ich bin ganz vernarrt in diese weibliche, süße Erscheinung. (Zum Publikum gewandt:) Ich lächle sie an. (Frau 2 blickt kurz zu Frau 1, wendet sich aber schnell wieder ab) Sie hat mich doch gesehen, oder? Sie hat aber nicht zurück gelächelt.
Ich bin verwirrt. (Kurze Pause) Ah, nein, sie tut nur so. Sie tut nur so! Schelmisches kleines Ding! Sie hat mich schon gesehen. Vielleicht traut sie sich auch nicht. Sie hat sich nur drei Sitze von mir entfernt niedergelassen. Ein Zeichen? (Frau 1 streift ihre Ärmel nach oben) So kann sie die Muskeln zählen…! Die Kleine würdigt mich keines Blickes. Sie traut sich nicht. Ich wusste es! Ich sollte näher rutschen. Das will sie doch! Ihr Blick ist auf ihr Handy gerichtet, sie ist nur schüchtern. (Frau 1 rutscht mit dem Stuhl etwas näher und hält inne, weil Frau 2 kurz zu ihr hinüber blickt.) Sie hat mich gesehen, sag ich doch! Sie wollte mich jetzt sogar wiedersehen, ein Zeichen! (Frau 2 fühlt sich sichtlich unwohl) Ich sehe es schon alles vor mir. Überrascht werden ihre blauen Augen zu mir wandern. Sie würde so tun, als hätte sie mich nicht erwartet, so ist es immer. Ich werde sie angrinsen und… (Schützend hält Frau 2 nun ihre Hände vor ihren Körper. Frau 1 beginnt langsam zu lächeln.) Schüchtern ist sie. Aber um ehrlich zu sein, sehe ich nur ihr helles Oberteil. Der blaue BH zeichnet sich darunter ab. (Frau 1 setzt sich neben Frau 2. Frau 1 stupst Frau 2 mit dem Knie an) Ich will hallo sagen! (Frau 2 zuckt leicht zusammen) Ok, diesen Moment muss ich kurz ausnutzen: (Frau 2 stellt sicher, dass ihr Äußeres sitzt:) Meine Haare sind extra mit viel Gel und Liebe frisiert, meine Ärmel: hochgesteckt. Check! (Frau 1 berührt das Knie erneut) Sie reagiert nicht, also lege ich meine Hand auf ihr Knie. (Frau 1 legt ihre Hand auf das Knie) Ich beobachte sie ganz genau, wie sie versucht etwas zu sagen, ihre zitternde Lippe erlaubt es ihr aber nicht. Sie versucht zu atmen, doch auch dies scheint ihr verwehrt. Nach Sekunden der Stille frage ich sie, ob sie mit mir wohin gehen wolle. Wohin, ist einerlei, sage ich und zwinkere der Kleinen zu. Hauptsache, wir haben unseren Spaß. (Kurze Pause. Frau 1 lässt die Hand vom Knie und wendet sich dem Publikum zu.) Nach Sekunden der Stille scheint sie sich aus ihrer Erstarrung gelöst zu haben. Sie kann sich aus ihrem Kaugummi befreien und schnappt nach Luft. Ich blicke sie immer noch erwartungsvoll an. Unsere Blicke treffen sich auch. „Adenauerplatz“, höre ich die Sprecherin sagen und in dem Moment stößt sich die Frau von mir. Die Türen öffnen sich und ich sehe die fremde Versuchung vorbeiziehen. (Frau 2 geht ins Off.) Völlig überrumpelt lasse ich sie ziehen. Ich würde ihr gerne hinterherlaufen, aber auch ich bin wie erstarrt. Sie wollte das, muss ich mir klar machen. Ich bin hier ein Opfer und ich will ihr doch nach, doch die Türen schließen sich. Ich bin das Opfer!

Frau 1 geht ins Off und Mann 2 geht nach vorne.
Nachts, da gehe ich nicht gerne raus. Tagsüber eigentlich auch nicht so gerne, aber da ist es nunmehr seltener. Tagsüber ist das Prozedere aber eben meist auch nicht zu vermeiden. Ich gebe mein Bestes, um nicht aufzufallen. Ich ziehe mir manchmal zwei Pullis über, in der Hoffnung, dass ich damit übersehen werde. Ich könnte mir eine Perücke aufsetzen, die mich unkenntlich macht. Ich könnte Alkohol trinken, um die Gegend blind und taub zu erkunden. Aber, das alles ist keine Lösung. Ich würde doch nur alles schlimmer machen. Also gehe ich heute auf die Straße. Ich trage einen langen Mantel, der meinen Körper doch irgendwie vor fremden Augen schützen soll, der mich schützen soll. Doch ein Mantel hält Blicke leider nicht wie eine Mauer auf. Sie bleiben an dir. Kleben an dir, wie ein Kaugummi. Es klebt in deinen Haaren oder unter deinen Schuhen. Es kann aber auch auf deinem Po, auf deiner Brust kleben. Wenn deine Intimität schon vollkommen verklebt ist und es dir nun schwer fällt die genannten Wörter von deinen neuen gedachten zu unterscheiden, fällt dir ein, du hast das Spülmittel vergessen. Dann gehst du nochmal los. Du schließt die Tür, biegst um die nächste Ecke und die nächsten Blicke fangen deinen Körper ein. (Mann 2 geht rückwärts. Die anderen Schauspieler bilden um ihn einen Pulk, starren auf ihn, lachen, tuscheln. Mann 2 fühlt sich sichtlich unwohl. Er beginnt langsam und wird schneller, wie in der Beschreibung) Du gehst langsam los. Du willst zeigen, „Ich habe keine Angst!“ Aber du hast ja Angst und die geht auch nicht weg. Und du wirst dann doch schneller. Du hörst die ersten Lacher, versuchst dich noch weiter hinter deinem Umhang zu verstecken, aber ein Superheld bist du nunmal nicht. Du bist kein Superheld! (Mann 1 schreit den nächsten Satz verzweifelt:) Ich bin kein Superheld! (Der Pulk löst sich auf und die Schauspieler verschwinden ins Off) Und dann hast du es irgendwann geschafft. Die Blicke lösen sich, der Kaugummi bleibt. Alles klebt. Zu Hause angekommen benutzt du das Spülmittel, um den Schmutz zu lösen, den Tipp hattest du im Internet gelesen, aber er bleibt hängen, der Kaugummi. Du fragst dich, ob du etwas falsch gemacht hast, weil ja, bestimmt hast du das. Das muss ja deine Schuld gewesen sein. Irgendwie liegt die Schuld immer bei dir. Die Kaugummireste bleiben schließlich doch überall kleben.

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