Politkrastination

(Ein großer Saal, zwei Sessel um einen Tisch, in einem sitzt der eine, der andere betrachtet eine Standuhr.)

DER EINE (erhebt sich) Gut, dass Sie gekommen sind. Man erwartet eine baldige Entscheidung von uns. Setzen Sie sich erst einmal, statt meine Uhr zu betrachten, dann können wir uns dem Wichtigen widmen.

DER ANDERE Ihre Uhr geht falsch, exakt fünfzehn Minuten vor.

DER EINE (setzt sich wieder) Diese Uhr geht nicht falsch.

DER ANDERE (sieht auf seine Armbanduhr) Tatsächlich.

DER EINE Sie haben sich geirrt?

DER ANDERE Nein. Es sind genau fünfzehn Minuten. Ich habe es überprüft. Eine ganze Viertelstunde.

DER EINE Eine ganze Viertelstunde… Sie machen mehr daraus, als es ist.

DER ANDERE (stellt die Uhr fünfzehn Minuten zurück) Zeit kann man nie genug haben.

DER EINE Von uns wird dringlichst ein Beschluss erwartet. Wir haben überhaupt gar keine Zeit.

DER ANDERE Das mit der Zeit ist so eine Sache, nicht wahr, man könnte sich stundenlang den Kopf darüber zerbrechen.

DER EINE Vielleicht hätten Sie Philosophie studieren sollen.

DER ANDERE Dabei gehört es doch zu unserem Beruf sich über diejenigen Dinge, über die wir entscheiden, im Klaren zu sein.

DER EINE Selbst Staatsphilosophie und Politik sind etwas vollkommen unterschiedliches. Sind Sie Utopist oder wollen Sie tatsächlich etwas erreichen?

DER ANDERE Im Gegensatz zu Ihnen habe ich es heute schon weit gebracht. Immerhin geht Ihre Uhr jetzt richtig.

DER EINE In der Zeit, die Sie mit meiner Uhr verbracht haben, hätten wir Besseres zu tun gehabt. Das Schlimmste daran ist, dass ich Ihnen nicht einmal sagen kann, wie viel Zeit Sie verschwendet haben, Sie haben ja die Uhr verstellt.

DER ANDERE Sie geht jetzt richtig.

DER EINE Sie sollten wissen, dass es in einigen Fällen nicht darauf ankommt das Richtige zu tun, solange man schnell handeln muss.

DER ANDERE Kennen Sie Kant?

DER EINE Ich habe zu viele Termine, um solch staubige Wälzer zu lesen. Außerdem ist deren Inhalt sicherlich nicht relevant für uns.

DER ANDERE Und wenn ich Ihnen eine Ausgabe mit bunt bedrucktem Kunststoffeinband gäbe?

DER EINE Machen Sie sich nicht lächerlich.

(Längeres Schweigen, der andere betrachtet die Uhr, dann setzt er sich in den zweiten Sessel, der eine sieht auf seine Armbanduhr, steht auf und stellt die Standuhr eine Minute vor.)

DER ANDERE Was tun Sie da?

DER EINE Ich stelle die Uhr richtig. Sie ging falsch, genau eine Minute vor.

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