Selbstreflexion, Version 365

*Ein Mädchen (M1) steht vor einem Kalender und betrachtet das Datum von vor einem Jahr. Plötzlich fährt ein Wind durch ihre Haare, erreicht den Kalender und blättert ihn exakt zwölf Monate zurück…*
*Szene wechselt*
*M1 steht nun in einem Raum mit hoher Decke und 2 Betten. Auf einem der Betten sitzt ein zweites Mädchen (M2) und weint. Sie sieht aus wie M1, nur sind ihre Haare kürzer, ihre Kleidung anders und ihr Gesicht wirkt jünger.*
M1: Hey… hi!
M2: Oh! Wer bist du denn? (Versucht ihre Tränen zu verbergen)
M1: Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber ich bin dein zukünftiges Ich. Ich komme ein Jahr aus der Zukunft.
M2: Und warum bist du hier? Habe ich mich in einem Jahr so sehr verändert, dass ich gerne Gesellschaft habe, wenn ich weine?
M1: Äh…nein. Wir heulen beide nur, wenn uns niemand zusieht, weil wir es immer noch nicht gern zeigen, wenn es uns schlecht geht. (Denkt nach) Also meistens jedenfalls. Aber dafür bin ich nicht hergekommen…
M2: Ach, warum denn dann?
M1: Wie schön, wir unterbrechen auch beide immer noch Leute, wenn sie reden…
M2: … und sarkastisch sind wir anscheinend immer noch…
M1: Egal. Was ich eigentlich sagen wollte, ist: ich weiß, warum du weinst, und ich wollte dich aufmuntern.
M2: Heißt das, mein Leben wird im nächsten Jahr tatsächlich besser? Ich kann das irgendwie nicht glauben.
M1: Also ja, es wird irgendwie schon besser.
M2: Das heißt, in einem Jahr geht es mir gut und ich bin zufrieden mit dem, was ich bin? Und wir geben einen Scheiß auf… na ja, du weißt ja, warum ich weine?
M1: Also, nen Scheiß drauf geben wir jetzt nicht, aber wir können drüber lachen.
M2: Wir lachen auch über Videos von lustig fallenden Toastscheiben.
M1: (guckt ertappt) Ähm…
M2: Aber wir sind glücklich?
M1: (verlegen) Na ja, in manchen Dingen schon, aber trotzdem glaube ich, dass wir diesen Dude da ein bisschen zu gut kennen. (deutet auf die diffuse, dunkle Gestalt von DEPRESSION, der bisher unbemerkt in einer Zimmerecke gehockt hat)
M2: Och nee! Nicht immer noch.
M1: Na ja, ich hab mir mittlerweile Hilfe geholt.
M2: Anderes Thema: verlieben wir uns ausnahmsweise mal glücklich?
M1: (wird rot) Ähm, ja,…
M2: Und war das eine gute Idee?
M1: Ähm, ja.
M2: (schmunzelt) Wir sind also verliebt und ein bisschen verwirrt darüber. Raus mit der Sprache, wer isses? Und seit wann? Sind wir endlich mal aus unserem Schneckenhaus gekommen?
M1: Die Antworten dadrauf würdest du mir eh nicht glauben. Und ich will da jetzt auch nicht weiter drüber reden.
(ANGST, UNSICHERHEIT UND SELBSTZWEIFEL winken aus einer anderen Ecke des Zimmers)
M2: Und was machen die hier? (schaut die Gestalten eingeschüchtert an)
M1: Ups, die sind wohl schon wieder aus dem Unnötig-Käfig ausgebüxt. Ich krieg die einfach nicht dauerhaft weggesperrt!
M2: (trocken) Kenne ich.
M1: Gut, aber was ich EIGENTLICH sagen wollte… du wirst dieses Jahr überstehen, auch wenn es hart wird. Du wirst Dinge mitkriegen, die dich verfolgen werden und du wirst viel Kraft brauchen, aber am Ende sind die guten Dinge das wert.
M2: (denkt einen Moment nach) Du klingst wie ein Motivationscoach.
M1: Aber es ist die Wahrheit.
M2: Und jetzt wie ein populistischer Politiker…
M1: (mehr zu sich selbst) Ich hatte vergessen, dass ich schon immer so stur war…
M2: Pff! Ich bin doch nicht stur!
M1: Doch, bist du. Und du wirst im nächsten Jahr viel über dich selbst lernen.
M2: Ich kenne mich selbst schon.
M1: (sarkastisch grinsend) Aber du wirst immer noch eine unglaubliche Besserwisserin sein.
*ein Handy klingelt. M1 holt es aus ihrer Hosentasche und wirft einen Blick darauf, der Hintergrund ist ein Gruppenfoto mit 6 Personen.*
M1: Sorry, aber ich muss jetzt los.
M2: (tritt näher, betrachtet das Bild und begreift) Halt. Warte. Was macht der da auf dem Foto?
M1: Also, mit dem sind wir irgendwie befreundet.
M2: WAS? (betrachtet das Bild genauer und sieht, dass ein Junge einen Arm um M1 gelegt hat) Ähm, wie bitte???? Wir sind doch nicht ernsthaft…. Das ist doch total surreal!
M1: Doch.
*M2 starrt M1 sprachlos an.
M1 verschwindet mit dem Geräusch einer schnell tickenden Uhr*
M2: (starrt GEFÜHLE an, die im Türrahmen sitzt) Holy shit, das wird n wildes Jahr…
M1: (Stimme klingt weit entfernt) Ach ja, und wir müssen unser Problem mit dem dauernden Fluchen dringend in den Griff kriegen!

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