Stärker als ihr denkt!

Wieder einmal schwitzte Ava, was nicht daran lag, dass sie, wie die Taliban es vorschrieben, einen Schleier tragen musste, nein, sondern daran, dass sie innerlich am Kochen war. Vor Wut auf die Taliban, darauf, wie sie allen Frauen in Afghanistan das Leben nahmen. Schon seit drei Monaten durfte Ava nicht mehr in die Schule, nicht mehr ihre Lieblingssachen tragen. Stattdessen trug sie Vollverschleierung und verbrachte Tag für Tag damit, zu überlegen, wie sie für die Rechte der Mädchen und Frauen eintreten konnte. Und das möglichst schnell, denn in schon einer Woche sollte sie den 20 Jahre älteren Lianh heiraten, den sie nicht liebte. Sein Vater war ein sehr mächtiger Politiker und hatte damit gedroht, ihren Vater Jaliel ins Gefängnis zu bringen. Jaliel liebte seine Tochter, aber noch mehr liebte er Avas Brüder Amir, Edris und Jonis. Avas Mutter Ellaha war vor fünf Jahren bei einem Protest für Frauenrechte umgekommen. Ava bewunderte sie für ihren Mut und dafür, dass sie trotz der eingeschränkten Rechte für Frauen immer so ein glücklicher Mensch gewesen war. Trotz der langen Grübeleien fiel Ava nichts ein. Da kam ihr Vater in ihr Zimmer, oder besser gesagt in das Zimmer, das sie sich mit ihrem jüngsten Bruder Jonis teilen musste: „Ava, mach dich bitte fertig, deine Brüder kommen gleich wieder und dann musst du für das Abendessen kochen, heute kommen Lianh und seine Eltern.“ Fertig machen hieß so viel wie sich waschen und einen anderen Schleier anziehen. Widerwillig machte Ava sich ans Werk. In der Nacht hatte sie einen Traum. Sie stand an der Hand ihrer Mutter auf der Straße. Ohne Verschleierung. Sie protestierten, plötzlich kamen Taliban und nahmen sie fest. Sie saßen in einer Zelle, Ava hatte Angst. Ihre Mutter nahm ihre Hand und sagte: „Ich werde dich lieben, egal was du machst. Ich weiß, dass du das Richtige tust.“ Am nächsten Morgen wachte Ava auf und hatte neue Lebensenergie. Sie wusste jetzt, dass sie alles dafür geben muss, für ihre Rechte und auch für die Rechte aller Mädchen und Frauen zu kämpfen. Also schrieb sie all ihren Freundinnen:
„An alle Mädchen und Frauen, wir haben genug unter Schleiern geschwitzt, genug für unsere Familien gekocht und genug zuhause gesessen, wir müssen kämpfen! Was haben wir denn zu verlieren? Einen Mann, den man nicht liebt, oder unendlich Schleier? Es kann nur schlechter werden, aber wenn wir alle jetzt protestieren, dann können wir etwas bewirken. Denn alle Frauen zusammen sind nicht schwach, wie die Männer immer sagen, sondern unendlich stark. Schickt das an alle Frauen, deren Kontakt ihr habt, und geht an diesem Samstag auf die Straßen und protestiert! Wir sind stark und am stärksten sind wir zusammen.“
Sie wusste, dass ihre Freundinnen mitmachen würden, genauso wie der Rest. Niemand wollte mehr so leben. Die nächsten Tage verbrachte Ava damit, Plakate zu basteln und diese vor ihrem Vater zu verstecken. Als es am Samstag endlich so weit war, war Ava aufgeregt wie noch nie in ihrem Leben. Aber sie wusste, dass sie es schaffen und ihre Mutter die ganze Zeit bei ihr sein würde. Als sie auf die Straße trat, war diese schon voller Mädchen und Frauen, und von überall strömten noch mehr herbei, sogar ein paar Jungs und Männer waren dabei. Sie hielt ihre Schilder hoch und fing an zu rufen: „Wir sind stärker als ihr denkt!“ Schnell stimmte die Masse mit ein. So ging es weiter, bis irgendwann die Jeeps mit den Taliban kamen. Sie riefen: „Aus dem Weg, ihr Weiber! Geht in eure Häuser zurück, wir sind unendlich stärker als ihr. Eure Lebensaufgabe ist es, Kinder zu zeugen, zu kochen und nicht zu protestieren.“ Was die Taliban sagten, regte die Masse nur noch mehr auf, sie wurde immer lauter. Es verschwanden Leute, die festgenommen wurden, aber es kamen noch mehr dazu. In den nächsten Tagen und Wochen fanden immer mehr Proteste statt. Inzwischen hatte Lianh die Verlobung schon aufgelöst, denn seinem Vater war der gute Ruf wichtiger als die Heirat seines Sohns mit einer Rebellin. Das motivierte Ava weiter. Sie hatte sich vor einer Zwangsheirat retten können und wollte noch viel mehr Mädchen und Frauen retten…

Kommentare

  1. Von LMC am

    Deine Geschichte ist meiner Meinung nach sehr gut gelungen!!! Ich finde es sehr cool das du über so ein ernstes Thema wie Frauen rechte berichtest und die Unterdrückung von Frauen du den Taliban. Die hoffnungsvolle und Starke Message kommt auf jedenfall an !!

  2. Von Veronica Emme am

    Das ist ein wunderbares mutmachendes und emotionales Drama! Die Situation der Mädchen und Frauen in Afghanistan wird einfühlsam und in treffend beschrieben.

  3. Von Elisabeth Esslinger am

    Wie aktuell dieses Thema doch ist, jetzt zum Jahrestag der Machtübernahme durch die Taliban vor einem Jahr. Stilistisch eindrücklich geschrieben, mit großer Anteilnahme von einem Mädchen über ein mutiges Mädchen; als Vorbild für andere Mädchen, auch in Afghanistan, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, den eigenen Weg zu gehen und etwas zu riskieren.

  4. Von Hockey am

    Sehr coole und interessante Geschichte,
    die aber trotzdem über ein ernstes Thema ist

  5. Von Elmo am

    Ich finde du hast den Lebenssinn von uns allen noch mal gut hervorgerufen,, man soll für seine Ziele kämpfen.”
    Danke, für diese tolle Geschichte

  6. Von Manfred Böddeling am

    Ich bin von dieser Geschichte sehr berührt!
    Sie ist wunderbar erzählt.

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