Als ich Freiheit vergaß

Ich renne barfuß über die Wiese, auf der vorher noch Kühe grasten und sich um ihre eigene Achse, ihren Hintern jagend, drehten, als seien sie Hunde. Hinter mir lasse ich den Wald, der mich in seiner Stammwände und Blätterdecke, schon viel zu lange eingeschlossen hat. Vorhin trat ich auf einen Spitzen Ast, jetzt trete ich auf Tautröpfchen, die sich an meine Zehen heften. Nichts kann es sein, was mich hätte retten können. Ich wollte einfach nur rennen, denn ich sah die Klippe, die vor mir lag.
Es war ein Himmelblauer Sommermorgen und ich roch das frisch gemähte Gras aus dem Nachbardorf. Die Brise, die sich mit dem Salz des Meeres mischte, trug auch den leicht stechend, grünen Geruch mit sich, der so unverkennbar einem eingezäunten und bearbeiteten Grundstück entsprang. Sie schnitten den Blumen die Köpfe ab, banden sie zu einem Strauß und schmückten ihre Esszimmertische damit. Sie verbannten alles Leben aus ihrem Garten, war es nicht von ihnen selbst dorthin gesetzt und sonnten sich wohlig in ihrem Schlachtfeld.
Wie kann man das ertragen. Sie müssen das Leid wohl nicht mitbekommen. Aber ich bemerke es. Irgendwie sehe ich, dass alles zusammenbricht. Irgendwann wird es auch noch der Letzte merken, aber dann ist es zu spät. Ich denke, aber nur, wenn ich es will. Ich atme, auch, wenn ich es will und jetzt renne ich, auch wenn ich es nicht will. Die Klippe, die sich vor mir in die Tiefe der steinernen Küste und der brausenden See stürzt, kommt immer näher. Links von mir steht ein breites Bauernhaus mit einem grauen Zaun. Die Farbe blättert schon ab. Aus dem Kamin steigt ein kriechender Qualm und setzt sich leise auf die Häupter seiner Erschaffer. Der Bauer und seine Frau sitzen auf der Terasse und blicken mich verwirrt an. „Warum er wohl so rennt?“ müssen sie sich jetzt denken. „Warum er es wohl so eilig hat?“ kann ich ihre Gedanken hören. Sie betrachten mich nicht mit Anklage. Mehr Interesse, Neugierde und Unwissenheit. Sie konnten nicht verstehen, warum ich so schnell war. Oder sie wussten einfach nicht, warum da jetzt jemand über ihre Wiese lief. Einen Grund hatten sie, es war ja ihre Wiese. Sie hätten auch Angst um ihre Kühe haben können. Vielleicht dachten sie, ich sei ein Kuhdieb. Aber ganz ehrlich? Wer konnte schon diese fetten Tiere stehlen. Ich war zu gebrechlich, geschweige denn schwach gebaut worden, als dass ich eine Kuh hätte auch nur bewegen können, auch wenn ich mich mit meiner ganzen Kraft gegen sie gestemmt hätte.
Die ersten Sonnenstrahlen, die sich bis vor kurzen noch hinter den Bergen im Horizont versteckt hatten, trafen auf mein Gesicht und ließen meine Haut glühen. Die Wärme umarmte mich und ich sprang ihr in der Tiefe der Klippe entgegen. Ich fiel in ihre Arme und verhimmlischte mein Glück. Der Wind staute sich unter mir und drückte mich, als wolle er mein Retter sein. Aber ich war nun mal frei und niemand, nicht der Wind, nicht die Sonnenstrahlen, konnten mir das nehmen. Die Strahlen wirbelten um mich, trafen mein Herz und gruben nach meiner Emotion. Doch wo nichts war, konnte auch nichts gefunden werden. Ein Funke vielleicht, der dem Sprung ensprang. Da war er. Sie zogen ihn raus und hielten kurz inne. Die Welt bleib stehen und mit ihr die Zeit. Es sah aus, als würde ich schweben. Sie betrachteten den kleinen Funken von allen Seiten und erlag der Köstlichkeit dieses Anblicks. Sie muss es vermisst haben. Lange hatte sie es nicht mehr gesehen.
Dann umschlossen sie den Funken ein letztes Mal, leuchteten kurz auf und legten ihn zurück in mein Herz. Noch einmal pulsierten sie und machte daraus eine handfeste Emotion. Oh ja, eine, die ich fühlen konnte. Ich hatte fast vergessen, wie es war zu fühlen, aber jetzt war es zu spät.

Kommentare

  1. Von Daniela am

    Gruselig! Es macht mir Angst trotz der Schönheit die drin steckt. Angst vor der Wahrheit die man immer öfter sieht.

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