Auf dem Boden der Tatsachen

(Marail, 22 Jahre; trägt dunkle Kleidung; steht am Rand der Bühne; halb zum Publikum gerichtet, aber eher mit sich selbst sprechend)

M (22): Mit 13 verlor ich meine Freiheit. Obwohl, nein, ich habe die Freiheit nicht verloren, denn ich habe sie nie besessen. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Ich habe etwas gefunden. Die Realität. Die kalte, trostlose, unbeschönigte Realität. Ich dachte immer, ich sei frei, selbstbestimmt. Aber mein kleines, kindliches Gehirn war zu naiv, das große Ganze zu begreifen. Doch an diesem einen verregneten Julinachmittag ging die heile Welt, die ich mir erdacht hatte, in die Brüche. Da merkte ich, dass es nur eine Illusion war, ein Trugbild.
(läuft verzweifelt, deprimiert über die Bühne, rauft sich die Haare etc.)
Als ich klein war, saßen mein Bruder und ich gerne auf dem Balkon, auf der alten, vergilbten Gartenliege. Ich schlürfte eine heiße Schokolade mit kleinen, bunten Marshmallows, kuschelte mich in meine Wolldecke und beobachtete die Sonne, wie sie langsam im Meer versank und es in Lava verwandelte. (sehnsüchtig & verträumt)
(ältere Marail setzt sich auf den Boden, blickt wehmütig in die Ferne & legt den Kopf auf die angezogenen Knie; Scheinwerfer richten sich noch während sie spricht langsam auf die Mitte der Bühne: Dort sitzt die 8-jährige Marail, hat eine Tasse in der Hand, ist in eine große Decke eingewickelt. Daneben ihr älterer Bruder Raphael, der den Arm um sie gelegt hat.)

M (8): Raphael, sag mal, was glaubst du wohin die Sonne jeden Abend geht?
R: Ich weiß es nicht. (kurze Pause) Vielleicht will sie einfach mehr von der Welt sehen als nur unser Dorf. Ich glaube sogar sie ist eine leidenschaftliche Weltenbummlerin. Und weißt du, wonach sie sucht?
M (8): Wonach denn? (mit leuchtenden Augen)
R: Nach Geschichten. Sie sieht und merkt alles, was auf der Welt geschieht. Und jedes Mal, wenn sie etwas Interessantes hört, schickt sie einen Sonnenstrahl los, um die Geschichte einzufangen.
M (8): Das heißt jeder Sonnenstrahl trägt eine Geschichte? Warum höre ich sie dann nicht?
R: Oh ja. Aber die Sonne gibt dir ihre Sammlung nicht einfach, das wäre ja viel zu leicht. Sie kitzelt dich an deiner Nase, lässt Orte in ganz anderem Licht erscheinen, damit du dir deine eigenen Geschichten ausdenkst.
M (8): Das heißt die Sonne lässt all das entstehen? Die Elfen, die bei Wind immer unter der großen Trauerweide im Garten tanzen? Und die Wolkendrachen, die bei Sonnenuntergang Feuer speien?
R: Das und noch viel mehr. (kurze Pause, zeigt plötzlich nach oben) Da! Hast du die Sternschnuppe gesehen?
M(8): Welche Sternschnuppe denn? Also ich habe nur das Diadem gesehen, das die Meerprinzessin wütend in die Luft geschleudert hat, weil ihr Vater sie mit diesem blöden Meerprinzen verheiraten wollte! (grinst breit und schaut R an)
(Scheinwerfer werden wieder auf M (22) gerichtet, sie steht auf und unterbricht ihre jüngere Version)
M (22): Ja, so war es. (seufzt) Wolkenschlösser ohne Grenzen. Aber dann musste ich erkennen, dass der Horizont nicht der Ort war, an dem sich Himmel und Erde küssten. Es war nur meine Grenze, mein beschränktes Sichtfeld. Jetzt weiß ich, dass Schmetterlinge in Wirklichkeit keine zauberhaften Feen mehr sind. Sie sind zu Mücken geworden, die sich an meinem Blut ergötzen. Nordlichter sind keine Himmelsstraßen mehr. Nur ein Produkt unserer verdorbenen, konsumorientierten Gesellschaft (wird langsam immer wütender und lauter). Die Streben des Balkongeländers sollten mich nicht beschützen. Sie hielten mich gefangen. Nur dass ich es nicht merkte. 13 Jahre lang!
(Langsam werden Gitterstäbe/ ein Käfig heruntergelassen/ hereingetragen, M (22) ergreift 2 Gitterstäbe mit beiden Händen) Mein goldener Käfig scheint immer kleiner zu werden, doch ich bin es, die ihn als solchen erkennt, Stück für Stück; ich bin es, die sich ihrer hoffnungslosen Lage immer mehr bewusst wird. Lasst mich raus! (schreit verzweifelt in Richtung Himmel, rüttelt an dem Gitter, sucht einen Ausweg, prallt aber immer wieder von den Wänden ab, kauert sich schließlich in eine Ecke) Aber vergebens. Ich muss mich abfinden mit meiner Gefangenschaft. Das ist die bittere Realität.
(Scheinwerfer werden auf den Käfigschlüssel gerichtet, der über ihr, gut erreichbar, an der Decke baumelt & funkelt)

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