Der Duft von Löwenzahn
KANINCHEN (Im Gehege), KATZE läuft an ihm vorbei, eine Maus im Maul.
KANINCHEN: “Du hast es gut, du darfst jeden Tag frei herumlaufen. Sogar in den Wald darfst du und dir einen Leckerbissen nach dem anderen genehmigen. Und ich sitze hier, in meinem kleinen Käfig und muss zuschauen wie dieser Löwenzahnbüschel von Tag zu Tag dicker und saftiger wird, ohne dass ich hinkomme.”
KATZE (hochmütig, legt die Maus vor ihren Füßen ab) “Hach, du hast gut reden, kleines Fellknäuel, du weißt ja nicht, was ich alles da draußen erleben muss. Sei du nur froh, in deinem sicheren Käfig zu sein und jeden Tag pünktlich dein Futter zu bekommen. Ich muss mich jeden Morgen auf die Lauer legen, um mein Frühstück zu bekommen. Was tust du denn, um dir deinen Luxus zu verdienen?”
KANINCHEN: “Luxus??? Ich habe keine andere Wahl als jeden Tag in diesem Gehege umherzuhoppeln und mich von diesen klebrigen Kinderhänden begrapschen zu lassen. Manchmal streicheln sie mich sogar gegen den Strich! Du kannst einfach weglaufen, wenn dir etwas nicht gefällt. Aber ich muss diese Tortur jeden Tag über mich ergehen lassen! Besonders schlimm ist es, wenn dieser parfumverseuchte Besuch da ist. Ich brauche Stunden, bis der Gestank wieder aus meinem Fell verschwunden ist! Igitt, wenn ich nur daran denke…“
KATZE: “Ach ja, wie schrecklich schlimm du es hast, ich bemitleide dich ja so sehr (sarkastisch). Aber dürfte ich dich ganz freundlich daran erinnern, dass ich jeden Abend unbarmherzig vor die Tür gesetzt werde, um mein Geschäft zu erledigen? Selbst im Winter bei den eisigsten Minustemperaturen muss ich mit meinen zarten Pfoten durch den Schnee stapfen, um mich zu erleichtern, während deine Toilettenecke täglich geleert wird. Eine Unverschämtheit ist das!”
KANINCHEN: “Du hast ja recht. Aber ich würde mich sofort bereit erklären, durch den Schnee zu hoppeln, wenn ich doch nur einmal über die weiten Wiesen springen und den Löwenzahn frisch vom Acker mümmeln könnte. Oder eine Erdhöhle graben dürfte, ohne dass sie gleich am nächsten Tag wieder zugeschüttet wird. ”
KATZE: “Dass ich nicht lache. Du würdest doch nach ein paar Metern schon schlapp machen. Und ich wette du frisst irgendwelche falschen Kräuter. Sieh es doch ein, Stubenhocker, dein Platz ist ganz recht, wo er jetzt ist. Ich muss mich nun um meine Beute kümmern. Die Arbeit tut sich schließlich nicht von selbst!” (nimmt die Maus wieder ins Maul & stolziert erhobenen Hauptes davon)
KANINCHEN (entschlossen zu sich selbst): “Ich werde ihr beweisen, dass ich mehr bin als das. Es ist doch nicht meine Schuld, dass ich hier festgehalten werde, während andere Feldhasen frei durch die Landschaft hoppeln dürfen!”
(KANINCHEN fängt an, zu buddeln und einen Tunnel unter dem Zaun hindurchzugraben. Immer wieder will er es aufgeben, weil seine Pfötchen schmerzen.)
ZU SICH: „Nein, ich gebe jetzt nicht auf, ich bin schon zu weit gekommen, als dass ich jetzt schlapp machen dürfte“
(Also gräbt er unermüdlich weiter. In den frühen Morgenstunden kommt er endlich entkräftet wieder an die Erdoberfläche. Dort läuft die Katze vorbei)
KATZE (Mit leichter Anerkennung, kann es wegen ihrer Arroganz aber nicht zugeben): “Tja, ich hätte nicht gedacht, dass du so weit kommst. Aber wie du willst. Versuche doch dein Glück (schnippisch). In ein paar Stunden bist du bestimmt sowieso wieder zurück, weil dein kleiner Magen knurrt.“
KANINCHEN (voller Zuversicht und ohne sich von der Katze abhalten zu lassen): Wir werden sehen, meine Liebe, warte einfach mal ab.
KANINCHEN (Zu sich selbst): Jetzt habe ich schon einmal den Duft der Freiheit geschnuppert, so schnell gebe ich das nicht auf. (schaut noch einmal mit einem Anflug von Wehmut zu dem Haus seiner Besitzer zurück, wendet sich dann allerdings entschlossen ab und hoppelt in Richtung der aufgehenden Sonne.