Der Kerker

[bis auf einen einfachen Stuhl eine leere Bühne; komplette Dunkelheit, nur ein Scheinwerfer auf den Sprecher]

(Sprecher steht vorne und erzählt in tiefster Trauer und Wut)

SPRECHER Wie kannst du nur. Wie du mich verachtest und verächtest. Du lässt mich hier ganz allein … als wäre es stumpfe Absicht. Du schießt ohne Ziel vor dich hin und triffst mich, triffst meine Seele. Du teilst sie; mit einem stumpfen Buttermesser zerschneidest du sie in tausend Einzelteile und wirfst sie umher, beginnst mit ihnen zu jonglieren und zerstreust sie, während ich nach ihnen renne wie ein Hund. Wenn sich dein Blick verirrt und den meinen durchbohrt, bringst du mich um.

(Sprecher setzt sich auf den Stuhl und spricht anfangs beruhigter und setzt im gleichen Ton wie vorhin fort)

SPRECHER Ich sitze hier und rede … und du, du, ja genau du. Du rennst und segelst und fliegst davon, raus in die Welt. Und ich, ich bin hier und kann mich nicht bewegen, bin von dir gefesselt und eingesperrt, sitze fest in meinem Kerker, den du errichtet hast, in dem du mich hältst wie ein Tier, ein Vieh. Ich bin dann doch nur dein Gefangener und muss dir zusehen, wie du blühst und aufgehst und ich kann mich nur in mich verkriechen.

(Sprecher blickt nachdenklich zu Boden für einige Sekunden und spricht dann beruhigt und überlegt)

SPRECHER Aber es war nicht immer so … Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, ich wäre frei, gefangen in der Schwerelosigkeit. Ich dachte, in deiner Obhut könne mir nichts passieren und vergaß die Welt um mich herum. Du fesseltest mich mit deinen Gedanken und ich war überzeugt, ich sei dein.

(Sprecher hebt anschließend langsam den Kopf und blickt nach oben und setzt dann sentimental und sehnsüchtig fort)

SPRECHER Wie sich meine Ohren nach deinen Geräuschen richteten und deinem Gesang lauschten. Die zähen Strähnen trafen allmählich auf mich und fesselten mich zu einem formlosen Haufen. Stück für Stück wurde ich eins mit dem Boden und verlor nach und nach meinen Körper und suchte ihn schließlich in deinen Tönen. Du ließest mich verstecken in deinen Gängen. Wenn mein Gesicht sich nach dir zog, wurde ich eins mit der Luft und war gefangen in deinen Armen. Ich tröstete mich an deinem Haus und spürte jede deiner Sprossen, kletterte deine Leiter hoch und ließ mich umhüllen von deinem Geruch.

(Stille; Sprecher blickt überzeugt ins Publikum und hält dann inne und verliert sich in seinen Gedanken)

SPRECHER Wie konnte ich bloß so blöd sein und dir vertrauen. Dir mein Herz öffnen und dir meine Seele schenken, dich an mir teilhaben lassen. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen, selbst hier, hier in meiner Geschichte, in meinen Gedanken bin ich dein Gefangener. Ich laufe dir in dein geöffnetes Maul und du verschlingst mich als deine Beute.

[Scheinwerfer aus]

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