Der Tunnel zur Freiheit
(September 1975 in Berlin. Karina liegt schlafend im Bett. Jens stürzt atemlos hinein, Karina, seine Frau, schreckt hoch.)
KARINA: Was ist los? (Markus schlägt ihre Decke zurück.) Bist du verrückt?!
JENS: Nein, Karina! Wir müssen hier weg! Sie wissen Bescheid! Wir sind aufgeflogen! Nicht mehr lange und sie stehen vor unserer Haustür!
KARINA: (Auf einmal hellwach, springt aus dem Bett und streift sich eine Strickjacke über, die auf dem Stuhl neben ihrem Bett hing.) Verdammt! Was nun?
JENS: (Sammelt einige Klamotten vom Boden und aus der Kommode unter dem Fenster zusammen und packt sie eilig in einen Koffer.) Wir müssen gehen! Jetzt! Noch können wir es schaffen!
KARINA: Wir haben nichts gepackt, uns von niemandem verabschiedet.
JENS: Wir haben zwar geplant, uns erst in einer Woche auf den Weg zu machen, aber es geht nun nicht anders, verstehst du? (Geht einen Schritt auf sie zu, streicht ihr sanft über die Unterarme)
KARINA: Aber wir können doch nicht einfach gehen. Wir werden all unsere Freunde nie wiedersehen.
JENS: Jetzt auf einmal bekommst du Zweifel? Wir haben die Flucht Jahre lang geplant und Monate in unserem Waschkeller verbracht. Wir haben Nächte durchgeschuftet, um diesen Tunnel zu graben. Das ist unser Weg in den Westen, in die Freiheit! Wir sind kurz davor, unser Ziel zu erreichen.
KARINA: (Weicht einen Schritt zurück.) Eigentlich war es doch immer eher dein Plan. Ich bin zufrieden. Ich führe hier ein glückliches Leben, habe einen sicheren Job, eine Wohnung, und unersetzbare Freunde und Familie, die ich nicht hier zurücklassen kann.
JENS: Du kannst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass du HIER zufrieden bist, Karina! Denk doch an die Freiheit und die Möglichkeiten, die wir drüben hätten.
Du könntest frei wählen, regierungskritische Aussagen treffen, ohne gleich mit Verfolgung oder Bestrafung rechnen zu müssen.
Dort gibt es keine ewigen Schlangen vor Obst- und Gemüseläden und keine leeren Regale in der Kaufhalle. Dort könntest du so viele Bananen kaufen, wie du willst. Wir könnten ein Auto kaufen, ohne Jahrzehnte auf Wartelisten zu stehen.
(Geht mit leuchtenden Augen einen Schritt auf sie zu.)
Wir können gemeinsam die Welt bereisen und zusammen frei und glücklich sein, so wie wir es uns immer gewünscht haben!
(Schaut sie erwartungsvoll an, fährt dann sanft fort.)
Ich verstehe, dass dir die Veränderung Angst macht. Es ist ein großer und endgültiger Schritt. Aber gemeinsam können wir das schaffen!
(Blickt ihr in die Augen und nimmt sie in den Arm. Flüstert.)
Wir müssen uns beeilen. Bald werden sie hier sein. Kommst du nun mit oder nicht?
KARINA: Nickt. Wir gehen gemeinsam.
(Die Zwei küssen sich.
Ein Motorengeräusch ist zu hören, anschließend zwei zuschlagende Autotüren. Die zwei schrecken auseinander.)
JENS: (Hechtet ans Fenster, ruft panisch) Verdammt! Sie sind da! Los runter!
(Schnappt sich den gepackten Koffer vom Bett, nimmt Karinas Hand.)
(Beide hasten durchs Treppenhaus, direkt in die Arme der Stasi…)