Die größte Angst
„Wo warst du so lange?“
Mir rutscht fast die Sense aus der Hand.
„Arbeit“, murmele ich, drücke mich an ihr vorbei, stelle die Sense an ihren Platz neben der Garderobe und husche ins Wohnzimmer.
„Du hast deine Kutte noch an“, ruft Marie mir von hinten zu.
Julia, die im Wohnzimmersessel sitzt, mustert mich ausführlich. Dann schaut sie böse zu mir auf. „Sag nicht, du hast es schon wieder getan?“
Ich lege meinen Zeigefinger an die Lippen. Max lächelt Julia triumphierend an und streckt fordernd die Hand aus. Julia rollt mit den Augen und legt ihm einen 5€- Schein hinein. Zufrieden steckt er ihn ein.
„Was ist denn los“, kommt es von hinten. Ich zucke zusammen. Langsam drehe ich mich um und schenke Marie ein strahlendes Lächeln. „Nicht ist los.“
Ein leises Quengeln dringt aus meiner Kutte. Mein Lächeln fällt in sich zusammen. Marie hebt die Augenbrauen. „Wie oft haben wir schon darüber geredet?“
Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. Marie seufzt. „Du bist für die Seelen der Toten da, nicht für die Lebenden.“
„Ich weiß“, antworte ich schuldbewusst. Vorsichtig hole ich das Baby aus der Kutte. „Aber ich konnte es nicht da liegen lassen. Ich konnte es nicht auch noch sterben lassen.“
Marie blickt mich besorgt an, nimmt mir dann aber doch das Baby ab.
Max stellt sich neben sie und sieht das Baby an. Ein leichtes Lächeln liegt auf seinen Lippen. „Ein neues Geschwisterchen. Ich sage den anderen Bescheid.“ Er stürmt aus dem Zimmer.
Marie blickt sich verwundert um. Dann schnüffelt sie am Baby herum. Angeekelt dreht sie den Kopf weg. „Hättest du nicht wenigstens die Windeln wechseln können?“
„Ich…“, druckse ich herum. Marie verdreht die Augen: „Die größte Angst des Todes ist eine Babywindel.“ Ich will widersprechen, halte im letzten Moment aber inne und seufze. „Du hast recht. Aber sag es bloß niemandem weiter.“