Festland
Vor einem Kaffeehaus bleibe ich stehen. Das kann doch echt nicht wahr sein. Zum Beruhigen brauche ich jetzt erstmal einen warmen Cappuccino. Außerdem regnet es. Richtiges Hamburg-Wetter und passend zu meiner Laune. Am liebsten würde ich auf der Stelle losweinen, aber ich bin kein Teenager mehr. Also glänzen meine Augen nur kurz und ich unterdrücke die Tränen. Mein Blick fällt auf die Karte mit den Heißgetränken. Alles ist komplett überteuert. „Scheiß Großstadt“, murmele ich. Egal, ich brauche jetzt etwas Warmes. Ich trete ein, die Hälfte der Tische ist leer und allgemein ist es angenehm ruhig. Leise läuft das Lied „My Bonnie Is Over the Ocean“ im Hintergrund. Das Lieblingslied meines Vaters. So oft haben wir es miteinander gesungen, meine Mutter war immer genervt davon. Ich kenne es Wort für Wort auswendig und fange an leise mitzusingen. An einem Tisch hinten sitzt ein älterer Mann, ganz allein. Neben ihm steht ein leicht durchgeweichtes Pappschild. Der Mann schaut verträumt aus dem Fenster und lächelt leicht. Irgendwie scheint er nicht anwesend. Ich fasse all meinen Mut zusammen und setze mich gegenüber von ihm auf den klapprigen Stuhl. Seit ich sechs Jahre alt bin, habe ich diesen Traum, zurück nach Hamburg zu kommen. Hier, wo ich geboren wurde und die schönsten Jahre meines Lebens verbracht habe. Bevor meine Eltern, als ich in die erste Klasse kam, auf die schreckliche Idee kamen, mit mir umzuziehen. Auf eine kleine Insel, die niemand und auf der wirklich jeder jeden kennt. Es kamen die schlimmsten Jahre meines Lebens auf mich zu. Bei den Erinnerungen schießen mir wieder die Tränen in die Augen. Ich verdränge den Gedanken und trockne meine feuchten Augen mit meinem Ärmel. Vor zwei Tagen war es endlich so weit gewesen. Ich habe mich von dieser Insel mit allen schlechten Erinnerungen, aber auch von meinen Eltern, verabschiedet. Ich schaue aus dem Fenster in Richtung Bahnhof, an dem ich optimistisch ankam. Es regnet immer noch und Menschen eilen hektisch am Fenster vorbei. Hamburg ist nicht so perfekt wie ich es mir immer ausgemalt habe. Mit keinem einzigen hatte ich heute geredet. Und jetzt sitze ich hier vor diesem alten Mann. Und ich merke, dass ich noch nicht von der Insel losgelöst bin. Dem Pappschild kann ich entnehmen, dass er den Namen Merlin trägt. Wie der Zauberer Merlin aus meinem Lieblingsbuch König Artus. Vielleicht kann dieser Merlin ja für mich zaubern? Erst jetzt mustere ich ihn genauer. Er schaut mich nun auch an. Seine Augen sind blau und unruhig, wie ein Meer im Sturm. Sein Lächeln wirkt ein wenig gruselig auf mich und seine Zähne sind gelblich. Vielleicht war das doch keine gute Idee, sich hier hinzusetzen. Der alte Merlin schaut mich erwartungsvoll an. Jetzt gibt es keinen Weg zurück. Mit zittriger Stimme beginne ich mich vorzustellen, von der Insel und meinen Eltern zu erzählen. Merlin hört interessiert zu. Merlins zittrige Hand will sein Wasserglas greifen. Plötzlich kippt das Glas um und entleert das Wasser über meine rechte Hand. Mein Körper fängt an zu zittern, wie früher, wenn ich nur dumpf durch die Wassermengen das Gelächter der anderen Kinder gehört habe und immer tiefer gesunken bin. Die Tränen schießen mir wieder in die Augen. Gerade will ich von meiner Schulzeit erzählen, als eine Kellnerin vorbeikommt, um meine Bestellung aufzunehmen. „Erzähl dem bloß nicht zu viel!“. Fragend schaue ich zu ihr, aber sie wendet sich schon wieder ab und geht zum nächsten Tisch. Kurz dreht sie sich noch einmal um und formt mit ihren Lippen ein „Der ist verrückt!“. Verunsichert schaue ich zu Merlin. Er schaut mich unverändert an, als wäre nichts passiert. Ich muss aussehen, wie ein verschrecktes Reh und plötzlich beginnt dieser Merlin leicht zu lächeln. Aber kein freundliches, sondern dieses gruselige Lächeln. Langsam kommt mir die Situation komisch vor. Trotzdem tut es irgendwie gut, mit ihm Zeit zu verbringen und mir alles von der Seele zu reden. „Nach dem Abschied hast du es ganz allein in der Hand, ob du dich über Wasser halten kannst oder untergehst. Du kannst es auch selbst verbocken, dafür brauchst du keine schlechten Menschen um dich herum. Wenn es gut läuft, schaffst du es aufs Festland, aber vielleicht treibst du auch zurück auf deine Insel oder zu bleibst dazwischen stecken. Ich bin bald am Festland.“ Zum ersten Mal spricht er, seine Stimme ist heiser und kratzig. Seine Worte treffen mich sehr. „Wir können ja zusammen ans Festland schwimmen. Ich kenne eine gute Kneipe nur drei Straßen von hier. Da gibt es montags jedes zehnte Bier gratis.“ Merlin legt seine Hand auf meine. Jetzt wird mir die Situation zu viel. Ich ziehe meine Hand weg von diesem Mann und stehe auf und verlasse das Kaffeehaus. Draußen hat der Regen aufgehört.
Kommentare
Liebe Clara, eine sehr kreative Idee. Mir haben das Setting und auch das Szenenbild als Metapher gut gefallen und ich fand das Ende super, weil du auch ein Thema ausgedrückt hast, über das ich noch nicht viel gelesen habe, mit dem ich mich aber sehr gut identifizieren kann:-)