Gefangene im eigenen Geist

[Mädchen kommt auf die Bühne, es setzt sich auf einen Stuhl in der Mitte der Bühne und fängt an zu reden]

Sie sagen, du bist doch frei. Sie sagen, du kannst doch alles haben, was du willst. Sie sagen, jetzt hör doch auf zu jammern. Sie sagen, andere haben nicht die Möglichkeiten, die du hast. Sie sagen, jetzt sei glücklich. Ja, theoretisch bin ich frei. Ja,theoretisch kann ich alles haben, was ich will. Ja, wahrscheinlich habe ich mehr Möglichkeiten als so manch anderer. Ich habe eine Familie. Ich habe Freunde. Ich sollte glücklich sein. Wieso bin ich dann nicht glücklich? Was habe ich falsch gemacht? Das habe ich mich oft gefragt.
Es sind meine Gedanken, die mich unglücklich machen. Sie wollen nicht aufhören. Sie halten mich fest und lassen mich nicht frei. Sie drehen sich im Kreis. Du wirst sterben, sagen meine Gedanken, ein Auto wird gleich um die Ecke rasen, die Kontrolle verlieren und dich umbringen. Du bist ein schlechter Mensch, sagen sie, du verdienst es unglücklich zu sein. Siehst du dieses Fenster?, fragen sie, was passiert wohl, wenn du dich zu weit herauslehnst? Probier es doch aus.
Sie lassen keine Ruhe. Nicht eine einzige Minute. Sie verfolgen mich selbst im Schlaf. Sie haben die Kontrolle über mein Leben übernommen, die Gedanken. Und ich hasse sie dafür. Ich kann nicht mehr ich selbst sein. Ich muss tun, was mir meine Gedanken sagen. Ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Körper. Das kann doch nicht sein, frage ich mich, ich sollte doch meine Gedanken beherrschen können, sie verdrängen, wenn ich wollte. Aber offenbar kann ich es nicht. Und meine Gedanken machen mich dafür runter, natürlich. Du bist so schwach, sagen sie. Du bist ein Opfer, sagen sie. Du kannst dich nicht mal beherrschen, sagen sie, schäme dich.
Ich fühle mich hilflos. Ich weiß nicht, wie ich mich aus den Klauen meiner eigenen Gedanken befreien kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals frei von solchen Gedanken sein kann. Diese Ungewissheit macht mir Angst. Ich weine mich abends in den Schlaf. So, dass mich keiner hören kann. Ich möchte nicht, dass die Welt da draußen von meinen grässlichen Gedanken erfährt. Ich möchte nicht, dass die Welt da draußen mich für verrückt, denn die Gedanken sind nicht normal, so Gedanken hat niemand, außer mir. Da bin ich mir absolut sicher.
Was soll ich bloß tun? Wie werde ich frei? Oh, lieber Gott, so helfe mir doch! Ich bitte dich, nein, ich flehe dich an, tu doch etwas. Lange kann ich nicht mehr mit diesen Gedanken leben!

[Mädchen bricht schluchzend zusammen und das Licht erlischt]

Kommentare

  1. Von Sarah am

    Ich finde den Text richtig fesselnd! Und es ist faszinierend wie gut die rhetorischen Mittel im Text eingewoben wurden

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