Mitlaufen, davonlaufen oder einfach nur laufen

[Ich sitze dir auf einem Stuhl gegenüber. Wütend, traurig und verzweifelt zugleich]

ICH: Hey. Warum bist du gegen mich? Kein anderer wirkt so konstant negativ auf mich ein. Ich mag das nicht. Macht es dir Spaß? Mir so viel Stress zu bereiten, dass ich Dinge vergesse, die mir Freude machen? Du bist schon die ganze Zeit mein Gegner. Von Geburt an. Oder war das mal anders? Manchmal will ich auch, dass du schnell vorbeigehst. Also in kleinen Situationen. Wie beim Anstehen in einer langen Schlange im Supermarkt. Oder wenn ich knapp den Bus verpasse und in der Mittagshitze warten muss. Doch im Großen und Ganzen fehlst du mir. Doch nicht auf eine sehnsüchtige Art und Weise. Du bist hinterhältig. Gaukelst mir immer so viel vor. Oder bin ich das selbst? Ich bin jeden Tag aufs Neue davon überzeugt, dass du nicht gegen mich läufst. Das du vielleicht in dem ganzen Marathon ein wenig schneller bist als ich, aber immer in greifbarer Nähe. Ich laufe entspannt hinter dir, müsste mich nur ein wenig anstrengen, um dich einzuholen. Aber dann merke ich langsam, dass ich mich gewaltig irre. Du bist noch nie mit mir gelaufen, du läufst gegen mich. Du läufst immer in die Richtung, in die du es am passendsten findest. Das ist meistens die gegenteilige von der, die ich bevorzugen würde. In öden Momenten bleibst du für mich stehen und in den vollgepackten fühlst du zu viel Ballast und möchtest ihn so schnell wie möglich ablegen.

[Du sitzt lässig mir gegenüber, dein Gesichtsausdruck ist jedoch sehr neutral.]

DU: Auch hey. Ich glaube du hast mich falsch verstanden. Oder du hast mich gar nicht verstanden. Du bestimmst meine Richtung. Du sagst, ob ich mit dir oder gegen dich laufen soll. Du sagst, wann ich kurz eine Pause machen darf. Aber nein, wenn du denkst, dass ich den Marathon gewinnen werde, dann werde ich das auch natürlich. Wenn ich gegen dich laufe, dann bin ich schneller und besser als du. Aber das ist alles von dir gesteuert. Ich bin keines Menschen Feindes oder Freundes. Ich bin so neutral wie die Armbanduhren eines Langstreckenläufers. Ich dokumentiere, ich laufe. Du entscheidest, ob du gegen oder für mich bist. Du machst mich zu etwas. Vielleicht wirke ich auf dich nur so mächtig, weil du Angst vor mir hast. Angst, dass ich zu schnell laufe. Dass ich dir weglaufe, entgleite. Aber vielleicht ist das dein Problem. Du könntest mich auch außen vorlassen, ignorieren. Dann beobachte ich wieder nur. Ich laufe. Nicht mehr und nicht weniger. Ich könnte aber auch weniger sein. Ich könnte ein Zuschauer, an der Strecke des Waldrandes sein, der dir eine Wasserflasche für den weiteren Lauf zuwirft. Wie gesagt, deine Entscheidung. Ich existiere nur. Du bist da, und machst mich zu etwas. Du hast es dieses Mal leider falsch gemacht. Du hast mich leider falsch verstanden. Zumindest würde ich nicht so gerne ein lebenslanges Duell gegen dich führen. Denn am Ende bist du mir eh unterlegen. Also lass uns Freunde sein. Denn dann werde ich unwichtig, vielleicht manchmal auch praktisch. Ihr fragt euch jetzt, wer ich bin?
Gestatten, Zeit mein Name.

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