Wenn du alles sein könntest…?
(Versteckt zwischen Büschen lungern zwei Mäuse. Eine ist kleiner als die Andere. Es herrscht eine Stille, die es nicht erwartet, unterbrochen zu werden, doch das entfernte Kreischen eines Adlers treibt die kleinere Maus zu einer plötzlichen Bewegung.)
Kleine Maus: Wenn du alles sein könntest, was wärst du?
Große Maus: (ohne zu zögern) Ich kann nicht alles sein.
Kl. Maus: Aber wenn doch?
Gr. Maus: (zur Unzufriedenheit der kleinen Maus erfolgt erneut keine Denkpause) Dann wäre die Welt eine Andere.
Kl. Maus: (zunehmend ungeduldig) Aber stell es dir vor!
(Kurze Pause, denn die hartnäckigen Nachfragen geben der großen Maus das Gefühl, dass genau das von ihr gefordert wird.)
Gr. Maus: Wäre ich etwas Anderes, dann wäre ich nicht der Mäuserich, der ich heute bin und würde mir vermutlich wünschen, eben jener zu sein, denn so wie ich bin, so soll ich sein, genau wie der Fuchs und die Ameise sein sollen. In unserem Wald ist das Dasein eines jeden damit begründet, dass er eben ist, denn wenn er nicht wäre, würde er hier fehlen. Wir alle haben also nicht mehr und nicht weniger Verantwortung, als zu sein.
(Beide sind wieder eine Weile still, die kleine Maus offensichtlich in Gedanken versunken.)
Kl. Maus: Wär‘ ich ein Adler, würde ich mir nie wieder was wünschen. Dann würd‘ ich fliegen wohin ich will und nicht zurückschauen, denn ich wäre der König der Lüfte.
Gr. Maus: Du bist kein Adler und das ist gut.
Kl. Maus: Wieso?
Gr. Maus: Wärst du ein Adler, dann wärst du nicht bei mir, sondern oben in der Luft und wann immer du nach unten schautest, müsste ich das Weite suchen.
Kl. Maus: (kurz huscht Resignation über ihre Züge, doch dann wird die kleine Maus wieder von Aufregung gepackt) Dann bist du eben auch ein Adler!
Gr. Maus: (seufzt) Ich kann kein Adler sein.
Kl. Maus: Aber wenn doch?
Gr. Maus: Dann wäre die Welt eine Andere.
(Der Satz der großen Maus sorgt bei der kleinen Maus sichtlich für Verwirrung, doch es handelt sich um einen dieser Sätze, der in einem Tonfall gesprochen wird, der es nicht wünscht, auf Widerworte zu stoßen. Also schweigen beide und während die kleine Maus den Blick senkt, schauen wir wieder nach oben und folgen dem kreischenden Adler zu seinem Horst. Dort warten kleine Adler auf ihn, denn ihre kleinen Flügel taugen noch nicht zum Fliegen. Alle Küken schlafen in der beengenden Nestmitte, nur eines ist wach.)
Kleiner Adler: Wenn du alles sein könntest, was wärst du?
Großer Adler: (als hätte er noch nie über etwas anderes nachgedacht) Wär‘ ich was Anderes, dann wäre ich eine Maus. Dann würde ich überall durch passen und schlafen würd‘ ich in einer gemütlichen kleinen Höhle im Boden, ohne dass mir der scharfe Wind das kuschelige Fell zerzaust.
(Der kleine Adler schaut verträumt in die Ferne)
Gr. Adler: Und du? Wenn du alles sein könntest, was wärst du?
(Der kleine Adler klettert an den Rand des Horsts, breitet seine kleinen, noch sehr kahlen Flügel aus und lehnt sich gegen die pfeifende Brise.)
Kl. Adler: Frei.
Kommentare
Wow, ich liebe es! Das spiegelt so gut unsere Gesellschaft wieder: Immer will man sein, was man nicht ist. Und keiner kommt auf die Idee, sich die Freiheit selbst zu wünschen, abgesehen vom kleinen Adler. Generell sprichst du auch das Problem an, dass mit dem Alter die Bereitschaft zu träumen schwindet, was jeden zum Nachdenken bringen sollte, um es im eigenen Leben zu vermeiden. Die Fantasie zu behalten ist so wichtig! Die ironischen Bemerkungen über die Erwartungen des Gesprächspartners, die sich in der Regie-Anweisungen wiederfinden, sind spitze. Vor allem als die große Maus so tut, als würde sie nachdenken XD. Toll gemacht, ich kann mir das echt gut als Theaterstück vorstellen!
Du hast ein sehr wichtiges Thema sehr schön umgesetzt, dein Text hat eine wichtige Botschaft. Gerade deine Beschreibungen sind wunderschön.